Verzweifelte Jahre
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Günter brachte einen Stapel Zeitungen. Wir gingen jeden Artikel durch. Vieles stimmte nicht. Aussagen waren aus dem Zusammenhang gerissen. In einem Bericht lasen wir: 48 Stunden nach Nataschas Veschwinden - die Mutter hat die Hoffnung aufgegeben. Trotzdem blätterten wir weiter. Irgendwo konnten wir was übersehen haben. Irgendwo war vielleicht ein Detail, das wir noch nicht kannten.
Sabina holte Tiefkühlkost aus dem Supermarkt. Machte mir etwas zu essen. Ich rührte nichts an. Freunde meldeten sich. Die ersten Journalisten kamen. Eine seltsame Routine schlich sich ein. Das Leben muss weitergehen, sagt man dazu, wenn wem anderen was Entsetzliches passiert. Es war immer ein so leerer Satz. Jetzt verstand ich ihn. Nur anders. Es war keine gut gemeinte Aufforderung. Man trug nichts bei. Das Leben machte das von selber. Jemandem fiel ein, dass Natascha einen geheimen Platz hatte. In Süßenbrunn. Ein Versteck, das sie mit einer Freundin teilte. Die Polizei fuhr hin. Sie fanden nichts. Im Kurier stand, dass jetzt ein Privatdetektiv im Auftrag der Redaktion ermittelte. Walter Pöchhacker hieß er, aus irgendeinem Grund merkte ich mir den Namen. Sabina musste wieder arbeiten. Sie kam am Abend und brachte mir Essen aus der Kantine der Fernwärme. Ich warf es weg, sobald sie bei der Tür draußen war. Ich lebte mit meinen Dämonen. Der Irren, die mir mein Kind gestohlen hat. Dem Psychopathen, der sich ausmalt, was er als Nächstes mit Natascha anstellen wird. Dem Entführer, der Natascha eine Zeitung mit dem heutigen Datum in die Hand drückt. Dem Triebtäter, vor dem Natascha davonkriecht und sich in den letzten Winkel kauert. Alles kreiste. Tag und Nacht verwoben sich ineinander. Auf Montag folgte Donnerstag. Nach Freitag kam der Mittwoch. Die Zeit kannte sich nicht mehr aus. Die Stunden verrannen zu Nichts. Ich war eine leere Hülle. Nicht einmal Tränen kamen mehr aus mir heraus. Ich schlief höchstens eindreiviertel Stunden am Stück. Ich hörte, wenn eine Katze auch nur gähnte. Ich registrierte, wenn der Lift sieben Stockwerke unter mir anfuhr. Das Klingeln des Telefons versetzte mich in Panik. Das Herz blieb mir stehen, wenn die Türglocke anschlug. So wie jetzt. Ich näherte mich dem Eingang wie einem Feind. Ich öffnete. Eine Sonnenblume stand vor der Tür.
*
»Gestatten, Wabl.«
Ein Mann mit weißen Haaren reichte mir die Hand. Dann die Sonnenblume. »Ich bin Familienrichter von Fürstenfeld«, sagte er, »ich möchte Ihnen gern helfen .« Er habe schon vielen Eltern bei der Suche nach vermissten Kindern geholfen, erklärte er. Er wolle sich auch hier nützlich zeigen. Ob er hereinkommen dürfe? Er erkundigte sich nach Nataschas Umfeld, nach ihren Lehrern, weil bei denen müsse man nämlich aufpassen . Da gäbe es öfters Übergriffe. Er ließ sich Nataschas Schulweg erklären. Er fragte nach Uhrzeiten und Kleidung, nach ihren Freundinnen und unseren Bekannten. Er machte den Eindruck eines seriösen, hilfsbereiten Mannes. Er blieb ein paar Stunden. »Ich melde mich«, versprach er an der Tür. »Bald.«
*
Ich bewegte mich nicht mehr nach außen, sondern nach unten. Wie auf einer Wendeltreppe, die mich immer tiefer in mich hineinführte. Ich schlich durch die Wohnung und stieß an meine vier Wände. Die Außenwelt dahinter kannte ich nicht mehr. Ich lebte ums Telefon herum. Dort kamen die Informationen herein. Von der Polizei. Von Verwandten. Von den Journalisten. Tageslicht kannte ich nur durch die Vorhänge. Um an die Luft zu kommen, ging ich auf den Balkon.
Nataschas Zimmer betrat ich nie. Ab und zu stand ich vor ihrer Tür. Ich wusste, wo ihre Puppen lagen, wo ihre grüne Stoffmaus saß, dass genau auf Augenhöhe an der anderen Seite der Tür das Heiligenposter hing. Don Bosco.
Ein paar ihrer Sachen, die im Wäschekorb gelegen waren, hatte ich gewaschen. Sie lagen jetzt noch auf dem Bügelbrett. Ordnung machte für mich nicht mehr denselben Sinn wie früher. Ich ließ den Geschirrspüler laufen, ich räumte ihn nicht aus. Man macht wenig Haushaltsarbeit, wenn man keinen Haushalt mehr hat. Man hat keinen Stundenplan, wenn Tag und Nacht nicht mehr stimmen. Ich schlief, wenn mein Körper aufgab. Irgendwann in der Früh. Untertags. Manchmal hatte ich die Augen dabei offen.
Einmal sah ich Natascha. Mami, sagte sie. Mir ist kalt. Ich sah einen Engel, der sie beschützte. Er hatte ihr Gesicht. Er verschwand wieder. Ich konnte auch den Engel nicht halten.
Langsam verlor ich den Verstand. Ich
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