Verzweifelte Jahre
du warst immer schon ein tapferes Mädchen, wir werden das schon durchstehen, du wirst sehen, es wird alles gut. Es wird alles gut.
*
Nichts war gut. Die größte Fahndung in Österreich seit der Nachkriegszeit hatte nichts ergeben. Die Hubschrauber flogen kaum mehr. Die Suchhunde wurden zurückgepfiffen. Die hundertzwanzig Polizisten, die die Umgebung in einem Umkreis von fünfzig Kilometern durchkämmt hatten, waren zum Großteil abgezogen. Die Zeugen, die Natascha zwischen Wien und Ungarn gesehen haben wollten, wurden nicht ernst genommen oder als Wichtigtuer entlarvt. Hundertvierzig Spuren führten ins Leere.
Die Reporter aus Deutschland fuhren heim. Die Traube der Zeitungsleute vor der Stiege 38 löste sich immer mehr auf. Mein Wohnzimmer gehörte wieder der Familie. Was an Nachrichten hereinkam, hatten wir aus dem Fernsehen, aus dem Radio, aus den Zeitungen, aus den Anrufen der Gruppe Fleischhacker aus dem Sicherheitsbüro und denen der Journalisten. Die Blitze, die mich bei jedem Klingeln des Telefons durchzuckten, waren weniger grell. Der Wahnsinn legte sich scheinbar. In Wahrheit verlagerte er sich nur von außen nach innen.
Die Familie kam immer noch ständig zusammen. Wir sprachen nach wie vor von nichts anderem. Aber ich sagte nicht mehr alles, was mir so durch den Kopf ging. Meine größeren Töchter hatten genug zu tun mit ihren Kindern, sie brauchten nicht noch eine Mutter, um die sie sich sorgen mussten. Ich versteckte mich hinter einer Fassade. Ich versteckte mich vor mir selbst.
Ich verließ das Haus, um einkaufen zu gehen. Ich machte mir mein Essen selber. Ich räumte es genau so wieder ab, wie ich es mir auf den Tisch gestellt hatte. Ich holte mir Zigaretten. Ich zog den Kopf ein, wenn mir jemand begegnete. Ich reagierte nicht, wenn mich wer anredete. Ich übersah die Blicke, die man mir von der Seite zuwarf. Ich überhörte das Tuscheln hinter mir. Ich wunderte mich, dass ich jeden Tag aufstand.
Das Rote Kreuz kontaktierte mich. Ob ich einen Wunsch hätte, fragte man mich. Ja, sagte ich, wenn Sie ein paar Suchhunde hätten.
Die Polizei meldete sich regelmäßig. Sie berichteten mir kaum Neues. Und wenn, dann war es nichts, was hoffen ließ. »Wir tun alles Menschenmögliche«, sagten sie. Sie schickten junge Mädchen aus, die Passanten nach der Uhrzeit fragten. Ein paar Minuten später hielten die Beamten dieselben Passanten auf, zeigten ihnen Fotos der Mädchen, die sie gerade angesprochen hatten, und wollten wissen, ob sie ihnen bekannt vorkämen. Nein, sagten sie alle, noch nie gesehen. So viel zur Glaubwürdigkeit von Zeugen, Frau Sirny. Sie kramten sogar das Protokoll der Zeugenaussage von Nataschas Schulkollegin wieder hervor. Ein zweiter Mann saß im weißen Lieferwagen, stand in dem Akt. Seit zwei Wochen stand das schon dort. Jetzt hatte es offenbar auch wer gelesen. Jetzt hatte es plötzlich Bedeutung. Jetzt, wo alle heißen Spuren kalt waren, sprach man auf einmal von einem Komplizen. Der Koch kam wieder ins Spiel. »Sie haben doch einmal gesagt, der Herr Koch hat auch einen weißen Lieferwagen«, sagten sie. Mit einem weißen Lieferwagen hatte er zu einem Geburtstag von Natascha einmal Krapfen bringen lassen. Von einem Arbeiter aus der Bäckerei, die wir damals gehabt haben. Man lud den Mann vor und überprüfte ihn. Nichts. Man druckte die Daten aller in Frage kommenden Besitzer weißer Lieferwagen aus. Es waren siebenhundert Namen. »Gehört der weiße Lieferwagen Ihnen ?« Der Mann nickte. »Zeigen S’ uns bitte einmal Führerschein und Zulassung. Wofür brauchen Sie so ein Fahrzeug ?« Der Mann reichte dem Polizisten die Papiere. »Ich transportiere Bauschutt .« »Dürfen wir kurz reinschauen ?« Der Mann schob die Seitentür auf und deutete auf den Schuttberg. »In Ordnung. Danke, Herr Priklopil. Wiederschauen.«
*
Sie setzten Froschmänner ein. An den zwei Badeteichen bei Süßenbrunn und Hirschstetten, wo wir mit Natascha öfters gewesen waren. Die Zeitungen und das Fernsehen berichteten groß darüber. Schaulustige standen in Massen hinter den Absperrungen und warteten. Wie die Geier, dachte ich. Wie die Geier. Mir wurde eiskalt.
Die wollen unbedingt, dass man was findet, dachte ich. Die brauchen eine Sensation. Denen kommt es nicht drauf an, ob die Natascha irgendwo gefangen gehalten und befreit wird oder ob man sie hier aus dem Teich fischt. Lebendig oder tot. Die wollen das Ende der Geschichte.
Die Taucher suchten nach einer toten Natascha. Sie lebt! Was
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