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Carte Blanche - Ein Bond-Roman

Carte Blanche - Ein Bond-Roman

Titel: Carte Blanche - Ein Bond-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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1
    Der Führer der serbischen Diesellok hatte eine Hand auf dem Totmannschalter und verspürte das prickelnde Gefühl, das ihn auf diesem Teil der Strecke stets überkam. Er befand sich nördlich von Belgrad und näherte sich Novi Sad.
    Dies war die Route des berühmten Arlberg-Orient-Express, der von den 1930er- bis in die 1960er-Jahre von Griechenland aus durch Belgrad und weiter nach Norden gefahren war. Natürlich saß der Mann nicht im Führerhaus einer schimmernden Pacific-231-Dampflokomotive, die elegante Speise-, Abteil- und Schlafwagen aus Mahagoni und Messing zog, in denen die Reisenden in Luxus und Vorfreude schwelgten. Er befehligte vielmehr ein verbeultes altes Ungetüm aus Amerika, an das halbwegs verlässliche Frachtwaggons mit ganz alltäglicher Ladung angehängt waren.
    Gleichwohl empfand er bei jedem Anblick dieser Reise den Schauder der Geschichte, vor allem, je näher sie dem Fluss kamen, seinem Fluss.
    Trotzdem war ihm unbehaglich zumute.
    Zwischen den Waggons, die für Budapest bestimmt waren und Kohle, Altmetall, Konsumgüter und Nutzholz geladen hatten, gab es einen, der ihm Sorgen machte. Er enthielt Fässer voller MIC – Methylisocyanat –, das in Ungarn bei der Herstellung von Gummi benutzt werden sollte.
    Der Lokführer – ein rundlicher Mann mit schütterem Haar, abgenutzter Schirmmütze und fleckigem Overall – war durch seinen Vorgesetzten und einen Idioten von der serbischen Aufsichtsbehörde für Sicherheit und Wohlergehen im Transportwesen ausführlich über die tödliche Chemikalie in Kenntnis gesetzt worden. Vor einigen Jahren hatte das Zeug im indischen Bhopal achttausend Menschen getötet – und das innerhalb weniger Tage, nachdem in dem dortigen Chemiewerk ein Leck aufgetreten war.
    Er hatte begriffen, welche Gefahr die Fracht bedeutete, als erfahrener Eisenbahner und Gewerkschaftsmitglied aber dennoch gefragt: »Was genau bedeutet das für die Fahrt nach Budapest?«
    Der Boss und der Bürokrat hatten sich wissend angesehen und nach einigem Überlegen auf »Seien Sie einfach nur sehr vorsichtig« beschränkt.
    In der Ferne zeichneten sich nun die Lichter von Novi Sad ab, Serbiens zweitgrößter Stadt, und die Donau erschien als blasser Streifen in der Abenddämmerung. Der Fluss wurde in Geschichte und Musik gerühmt. In Wahrheit war er braun, unscheinbar und wurde von Lastkähnen und Tankern befahren, nicht von Booten mit Liebespaaren und Wiener Orchestern im Kerzenschein – jedenfalls nicht hier. Aber Donau blieb Donau, der ganze Stolz des Balkans, und so schwoll auch jedes Mal die Brust des Eisenbahners, wenn er mit seinem Zug über die Brücke fuhr.
    Sein Fluss …
    Er spähte durch die schmutzige Scheibe auf die Schienen im Scheinwerferlicht der General-Electric-Diesellok und konnte nichts Ungewöhnliches entdecken.
    Der Gashebel hatte acht mögliche Einstellungen, wobei die Nummer eins der langsamsten Geschwindigkeit entsprach. Gegenwärtig stand er auf fünf. Der Lokführer schaltete auf drei herunter, denn es kam eine Reihe von Kehren. Die mehr als viertausend PS starke Maschine wurde etwas leiser, und die Leistung verringerte sich.
    Als der Zug den geraden Streckenteil vor der Brücke erreichte, schaltete der Lokführer wieder auf Stufe fünf, dann auf sechs. Die Maschine dröhnte lauter und schneller, und von hinten ertönte mehrmals ein deutliches Klirren. Es stammte von den Kupplungen zwischen den Waggons, die auf die Beschleunigung reagierten, und der Lokführer hatte es schon unzählige Male gehört. Doch diesmal gaukelte seine Fantasie ihm vor, das Geräusch wäre durch die Metallbehälter mit der tödlichen Chemikalie in Waggon Nummer drei hervorgerufen worden. Die Fässer prallten gegeneinander und würden womöglich ihr Gift verspritzen.
    Unsinn, tadelte er sich und achtete darauf, die Geschwindigkeit zu halten. Dann zog er an dem Griff des Signalhorns. Es gab eigentlich keinen Anlass, aber er fühlte sich dabei irgendwie besser.

2
    Ein Mann mit ernster Miene lag wie ein Jäger im Gras einer Hügelkuppe und hörte in einigen Kilometern Entfernung ein Horn ertönen. Ein Blick durch sein Nachtsichtfernrohr verriet ihm, dass das Signal von dem Zug stammte, der aus Richtung Süden nahte und in zehn oder fünfzehn Minuten hier eintreffen würde. Der Mann fragte sich, welche Auswirkungen das auf die heikle Operation haben könnte, die unmittelbar bevorstand.
    Er rückte ein Stück herum und musterte durch das Fernrohr die Diesellokomotive und den langen Strang

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