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Video-Kid

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Titel: Video-Kid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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wußte, du würdest mich nicht im Stich lassen. Ich brauche Menschen nur ins Gesicht zu sehen und weiß dann, wie sie sich verhalten werden. Viele Leute werden dir in den kommenden Monaten ins Gesicht sehen, Anna. Und ich weiß, daß sie dann die reine Güte und Ehrlichkeit erblicken, die auch ich darin sehe. Ach, das Hochplateau ist ein hartes Land, aber hier kommen wunderbare, starke Frauen zur Welt. Du wirst einige Last auf diesen schmalen Schultern tragen müssen, mein Kind; eine ähnliche wie ich. Solche Lasten können einem bitter werden. Manchmal brichst du unter ihnen in Tränen aus. Aber wenn du unter der Last nicht zusammenbrichst, macht sie dich nur noch stärker.‹ Er wandte sich wieder an meine Urgroßmutter. ›Wann kann sie mit mir nach Peitho?‹
    ›Sobald du willst, Rominuald‹, sagte sie.«
    Anna hielt plötzlich in ihrer Erzählung inne und erklärte Moses Moses: »Peitho ist seit einiger Zeit die Hauptstadt von Niwlind. Zu deiner Zeit war es Miclo.«
    Moses Moses nickte. »Ich habe nie von dieser Stadt gehört. Wahrscheinlich hat man sie erst später gebaut.«
    Anna atmete tief ein. »Dann erhob sich der Generalbevollmächtigte von seinem Sessel und trat auf mich zu. Er legte beide Hände auf meine Schultern und sah mir tief in die Augen. Er war ein sehr großer Mann, größer als du, Kid, um mindestens zehn Zentimeter größer.«
    »Wahrscheinlich hat er Plateausohlen getragen«, sagte ich.
    »Er sah mich also an und sagte: ›Das kommt sicher alles etwas plötzlich für dich, Anna, ich weiß. Wir brechen morgen auf, und ich führe dich von denen fort, die du magst und liebst. Du wirst dieses Land monatelang nicht wiedersehen, vielleicht sogar noch länger nicht. Dann betrittst du eine neue Welt, eine komplizierte Welt voller Gefahren und voller Sünde. Sie wird dich verwirren, und sie wird dich sehr verletzen, wenn du nicht ständig auf dich achtgibst. Ich muß deine ersten Schritte lenken. Du mußt mir dafür Vertrauen entgegenbringen und meinem Rat gehorchen, selbst wenn du ihn nicht begreifst. Du verstehst doch, wie notwendig es ist, oder?‹ Und er sah mir mit seinen weisen alten Augen noch tiefer in die meinen. Er hatte die gleichen Augen wie du, Kid, nur waren sie größer und glänzender, wie zwei Strudel.
    Und ich sagte: ›Ja, Herr Sekretär. Ich will Ihrem Rat folgen. Sie sollen mich führen. ‹ Dann wandte ich den Blick ab, weil seine Augen mich so intensiv ansahen, daß ich es nicht länger ertragen konnte.
    ›Gut‹, sagte er. ›Wenn wir morgen losziehen, haben wir Zeit, uns lange zu unterhalten, bis wir in der Hauptstadt angekommen sind. Kameras sind dort, und Lichter und Lärm, und mehr Menschen, als du in deinem ganzen Leben gesehen hast. Aber, Anna, du darfst keine Angst haben, denn deine Sache ist eine gerechte Sache, und ich stehe dir zur Seite. Willst du mir folgen?‹
    ›Ja, ich will Ihnen folgen‹, sagte ich, konnte aber die Worte nur flüstern, weil ich befürchtete, jeden Augenblick in Tränen auszubrechen. Er umarmte mich einen Moment lang. Dann drehte er sich um und verbeugte sich vor der Mysteriarchin. So tief war seine Verbeugung, daß die beiden Stöcke des Nunchucks vom Hals herabhingen und den Boden berührten. Dann verließ Tanglin ohne ein weiteres Wort den Raum. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich warf mich der Mysteriarchin zu Füßen und weinte in ihrem Schoß.
    Sie sagte nichts, sondern wartete nur geduldig, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Dann trocknete sie meine Augen mit ihrem schwarzen Gewand und sagte: ›Ich bin froh, daß du weinst, mein Kind, denn das waren auf lange Zeit deine letzten Tränen. Du darfst nicht mehr weinen, verstehst du das? Von nun an mußt du tapfer sein.‹
    ›O gütige Frau, was soll ich nur tun?‹
    Sie schwieg eine Weile, während sie ihren Geist vom tiefen Wasser der heiligen Intuition überfluten ließ. ›Tue das, was er sagt‹, erklärte sie schließlich. ›Ach, ich vertraue dich ihm nicht allzugern an. Dieser Mann hat so viele Sünden begangen, wie er Haare am Kopf hat. Aber ich muß es tun. Ich habe mit ihm geredet, mein Schatz, und ohne daß er es bemerkt hat, hat er mir sein Herz geöffnet. Er ist wahnsinnig. Rominuald Tanglin ist der einzige, der uns helfen kann, aber er ist wahnsinnig. Er hat viele Feinde, aber er hat sich selbst welche geschaffen, aus den Geistern der Vergangenheit, der fernen, fernen Vergangenheit. Seine Ängste verfolgen

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