Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Video-Kid

Video-Kid

Titel: Video-Kid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
Vom Netzwerk:
mich, ohne Einschränkungen oder Behinderungen befürchten zu müssen, dem Studium dieser Wesen widmen. Das alles verdankte ich Rominuald Tanglin. Nur die Kirchengemeinde und die Bergarbeiter lebten im Hochland. Und das war gleichzeitig auch das einzige Lebensgebiet der Moas. Dadurch wurde ich zu einem der führenden Moa-Experten. Ich brachte sehr viel Geduld auf, folgte ihnen zu Fuß, ließ es mir nie einfallen, eine bedrohliche Geste zu machen, und wann immer ich konnte, brachte ich ihnen Nahrung. Sie gewöhnten sich an meinen Geruch und an meine Anwesenheit. Nach einiger Zeit konnte ich tagelang mit ihnen herumziehen, hatte schließlich meinen Stamm und gab dessen Mitgliedern Namen.
    Aber die Bergwerke schossen wie Pilze aus dem Boden, und von ganz Niwlind kamen Fremde - es war wie ein Goldrausch. Mehr als einmal fand ich erschossene Moas oder qualvoll in primitiven Fallen verendete Tiere. Natürlich waren auch die Moas keine Unschuldsengel, aber immerhin war es ihr Land. Die menschlichen Eindringlinge zerstörten gnadenlos ihre geheiligten Plätze. Jawohl, ich sage geheiligte Plätze, da brauchst du gar nicht so dumm zu gucken. Warum sollten die Moas tanzen, wenn nicht, um damit ein höheres Wesen zu ehren?
    Die Bergarbeiter hatten Angst vor den Moas, und das sicher aus gutem Grund. Mehr als einer von ihnen wurde mit abgenagten Knochen aufgefunden, an denen die Schnabelbisse unverkennbar waren. Aber ich kann sagen, daß mein Stamm nie einen Menschen getötet hat. Er hielt sich in der Nähe des Hochaltars auf, wo die Kirchenfamilie eingeborenes Leben notfalls mit dem eigenen verteidigt hätte. Die Bergarbeiter wollten alle Moas ausrotten, und sie ließen ihre Verbindungen in Regierung und Verwaltung spielen, um das Recht dazu zugesprochen zu bekommen - oder besser gesagt, das Unrecht dazu. Aber da war Rominuald Tanglin vor! Er bekam Wind von diesem schäbigen Plan, und seine aufrechte Seele füllte sich mit gerechter Empörung.
    Er besuchte den Hochaltar höchstpersönlich. Wir bereiteten ihm einen begeisterten Empfang. Immerhin war er zu jener Zeit schon der Generalbevollmächtigte, der Erste Sekretär, obwohl seine Position noch nicht rundum gefestigt war. Unser Jubel schien ihm zu gefallen, aber das konnte man eigentlich nur schwer beurteilen, denn er war in vielerlei Hinsicht ein eigentümlicher Mensch. Diese sonderbaren Stöcke, die mit einer Kette verbunden waren - die Waffe, die du gebrauchst, Kid -, er trug sie die ganze Zeit über. Er ließ sie keinen Moment lang aus den Fingern, hat sie aber nie in unedler, gewalttätiger Weise eingesetzt. Tanglin hat sie wohl nur aus sportlichen Gründen benutzt, da bin ich mir ganz sicher.
    Der Generalbevollmächtigte verbrachte etliche Stunden in einem vertraulichen Gespräch mit der Mysteriarchin. Die beiden verstanden sich sehr gut, was uns alle erfreute und überraschte, denn für gewöhnlich war die Mysteriarchin Fremden gegenüber kurz angebunden. Sie war schon über vierhundert Jahre alt und duldete die Sünde nicht. Aber offensichtlich erkannte sie im Ersten Sekretär einen moralisch aufrichtigen Menschen. Oder aber Tanglin hatte sie mit seinem vielgerühmten Charme eingewickelt.
    Ihr könnt euch sicher meinen Schrecken und meine Überraschung vorstellen, als sie mich, Anna Zwiegeboren, in ihr Konferenzzimmer riefen. Woher sollte ich junges Mädchen das Recht haben, einen solchen Ort zu betreten? Ich durfte ja noch nicht den Namen Sanktanna führen, war erst zwanzig Jahre alt.
    Es war das aufregendste Erlebnis, das mir bis dahin widerfahren war. Selbst meine geheimsten Träume hatten eine solche Begegnung nicht einmal angedeutet: dem Ersten Sekretär höchstpersönlich gegenüberzustehen! Und nicht nur irgendeinem Generalbevollmächtigten, obwohl die ja schon selten genug sind, sondern gleich Rominuald Tanglin! Ich war so aufgeregt, daß ich fast auf der Stelle losgeheult hätte. An diesem Tag habe ich sicher fünfzig Sünden der Hochmut begangen!
    Ich kann mich heute noch an jedes Wort vom Generalbevollmächtigten erinnern. Ein höchst sonderbares Erlebnis. Ich hatte mich noch nie in solch hohen Kreisen bewegt und wußte daher nicht, was mich erwartete. Aber auch so war es mir schon unheimlich genug.
    Das erste, was mir auffiel, war das seltsame Verhalten der Mysteriarchin. Sie und der Generalbevollmächtigte saßen in hohen Sesseln. Er hatte seine übliche Position eingenommen, wie man ihn immer auf den Bändern sieht: Die Beine sind übereinandergeschlagen,

Weitere Kostenlose Bücher