Vielleicht Esther
Massengrab hinausgelangt war, als alle Einwohner,
von Jung bis Alt, ermordet wurden. Erst viel später verstand ich, dass das unheimliche Monster, vor dem wir Mädchen uns im Hof zwischen den langgestreckten Hochhäusern immer gefürchtet hatten, wir nannten ihn den Irren, dass er der Sohn des zerbrechlichen Boris war und damit vielleicht der letzte Sprössling des verschwundenen jüdischen Städtchens.
Manchmal schrieb man uns Briefe in die Veneziastraße, Uliza Venezii. Unser Haus stand tatsächlich an einem Kanal, was nicht alle Briefschreiber wussten. Die Briefe kamen an, denn in Kiew gab es keine Uliza Venezii, und so waren wir für ganz Italien zuständig. Wegen dieses Venezia drängte das Wasser in meine Träume, es überschwemmte alles, aber immer kam Rettung, wenn das Wasser bis zu meinem siebten Stock gestiegen war, immer in einer goldenen Gondel aus nebliger Ferne und nur für mich. An die überfluteten Nachbarn unter mir dachte ich nicht, in meinen Träumen hatte ich sie vergessen.
Drei Stockwerke unter uns wohnte die einsame Makarowna, ein altes ukrainisches Dorfmädchen, sie hatte als Kind die Kollektivierung überlebt, nur um danach Eltern und Bräutigam im Krieg zu verlieren. Jahrelang saß sie in Pantoffeln und Kopftuch auf der Bank vor unserem Haus, sie war die Temperamentvollste von allen, die Frechste und die Unglücklichste, immer angetrunken, manchmal lustig, aber nie fröhlich, sie verteilte Bonbons an uns Kinder, Bonbons, die so alt waren, als kämen sie aus der eisernen Kriegsreserve. In ihrem grellgelben Kopftuch mit weinrot und grün leuchtenden Blumen, in ihrem dunkelblauen Schlafrock – die Uniform der Rentnerinnen –, mit dem Widderblick ihrer leicht hervorquellenden Augen, schien
sie mir einer der letzten Menschen ihres starken, wilden, schönen Volkes zu sein, das sich irgendwann hier angesiedelt hatte, wo die ukrainische Steppe begann. Später schenkte sie mir die überflüssigsten Dinge der Welt, Filzstiefel für Säuglinge oder dick bestickte Taschentücher, die ich immer noch aufbewahre, sie schenkte, weil sie Geld brauchte, aber das verstand ich damals nicht, und zwischendurch erzählte sie in wirren Bruchstücken vom Krieg, von ihrer ausgestorbenen Familie und von den Kolchosen. Doch entweder hatte ich im Vorbeigehen nicht genau hingehört, oder sie brachte in ihrem Delirium die sowjetischen Katastrophen durcheinander, jedenfalls stimmten die Jahre nicht überein, die Familie war mal im Krieg umgekommen, dann wieder auf den Kolchosen verhungert, und ihr Bräutigam war nie zurückgekommen, oder es hatte ihn nie gegeben, wie ich insgeheim befürchtete, der Krieg war schuld, und das war das einzige, was hier stimmte.
Im Museum
Ich wollte wieder nach oben, um den Zweispitz von Napoleon anzuschauen, den er bei Waterloo verloren hatte, doch meine Tochter zog mich ins Erdgeschoss, zum zwanzigsten Jahrhundert, ich versuchte, sie mit Dürer und Luther abzulenken, vergeblich, sie zog mich in die Zwanziger, schnell durch die Streiks, den Hunger und Berlins Goldenes Zeitalter, denn sie wollte weiter, sie wollte dorthin, und als wir uns den Dreißigern näherten, wurde ich nervös, sie zog mich weiter, schloss sich einer Führung für Erwachse
ne an, lieber nicht, sagte ich, aber sie tröstete mich, ich weiß schon Bescheid, Mama, und ihr Trost beunruhigte mich mehr als ihr Wissen, sie war elf. Wir schritten durch die Machtergreifung, das Vereinsverbot, die Verfolgung der Kommunisten, und als wir vor der Tabelle mit den Nürnberger Gesetzen standen und die Führerin – komisch, dass es dafür kein anderes Wort gibt, sie erzählte gerade vom Führer – als die Führerin zu erklären begann, wer und wie viel Prozent, da fragte mich meine Tochter in lautem Flüstern, wo sind wir hier? wo sind wir hier in dieser Tabelle, Mama? Eigentlich müsste man die Frage nicht im Präsens, sondern im Imperfekt stellen und im Konjunktiv, wo wären wir gewesen, wenn wir damals gelebt hätten, wenn wir in diesem Land gelebt hätten – wenn wir jüdisch gewesen wären und damals hier gelebt hätten. Ich kenne diesen mangelnden Respekt vor der Grammatik, auch ich stelle mir solche Fragen, wo bin ich auf dem Bild, die mich aus der Welt der Vorstellung in die Realität versetzen, denn die Vermeidung des Konjunktivs macht aus einer Vorstellung eine Erkenntnis oder sogar einen Bericht, man nimmt die Stelle eines anderen ein, katapultiert sich dorthin, auf diese Tabelle zum Beispiel, und so erprobe
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