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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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Lautsprache beten lernen, und als er es konnte, ging er auf den Friedhof zum Grab seines vor vielen Jahren ge
storbenen Vaters, um das Kaddisch zu sprechen. Darüber hatten sogar Zeitungen geschrieben.
     
    Ozjel fügte dem Namen Geller in der Übersetzung seinen eigenen Namen, Krzewin, bei. Wollte er auf die Verwandtschaft hinweisen? Oder stand das Wort bereits im Originaltext, ein Übername, den sich Simon verdient hatte? Wer Krzewin heißt, sagt mir ein polnischer Freund, verbreitet Bildung, krzew bedeutet Busch, sagt ein anderer, vielleicht haben deine Krzewins Bäume gepflanzt. Aber die Juden hatten kein Land, dachte ich, sie pflanzten ihre Bäume in die Luft, es gefiel mir, dass sogar der Name meiner Ahnen von diesem wuchernden Drang nach Bildung zeugen sollte. Ich blätterte in Die Geschichte des Judentums , sechs Bände, Die Geschichte des Ostjudentums , zwei Bände, Die Geschichte der Juden, ein Band, ich ging an den Judaica-Regalen der Bibliothek auf und ab.
    In den vielen dicken Büchern über Wien und seine Taubstummen-Institutionen fand ich keinen Simon Geller. In  der grundlegenden Schrift Das Allgemeine österreichische israelitische Taubstummen-Institut in Wien, 1844-1926 kommt ein Simon Heller vor, genau in der Zeit unseres Hellers oder Gellers, doch er war Leiter eines Blindeninstituts. Das muss er sein, sagte die Dame im Archiv, in der kleinen Welt der Behindertenpädagogik kann es nur einen Simon Heller gegeben haben.
     
    Von Wien aus zog die Schule durch die polnische Provinz, durch Galizien, wie ein Wanderzirkus, sie blieben jeweils kurz in einer Stadt, einem Städtchen, einem Shtetl, dann zog Simon weiter, mit seiner Familie, den Waisenkindern
und jenen Kindern, die von ihren Eltern geschickt wurden.
    Ich blickte hinein und hörte zu, ich dachte an die zahlreichen selbstlosen Männer der jüdischen Aufklärung, die, beseelt von der Idee, Wissen zu verbreiten, es von Mund zu Mund weitertrugen. Für dieses vom Hören besessene Volk war die gesprochene Sprache alles. Ich gestikulierte, rief, öffnete meine Lippen, ich probierte Sch'ma Israel , wieder und wieder, Sch'ma Israel , als hätte ich noch nie gesprochen, ich schüttelte die Luft, Sch'ma Israel , ich wollte so sehr gehört werden, erprobte meine Zunge, meine Sprache, ich versuchte, die Geschichten zu erzählen, sie in mein fremdes Deutsch zu übertragen, ich erzählte die Geschichten, eine nach der anderen, aber ich hörte selbst nicht, was ich sagte.
    Ein Flug
    Ich ließ den Lehrer, Schimon, nicht aus den Augen, wie er, zurück von einer Geldsammelreise, eilig durch das Städtchen mit den altersschiefen Häusern schritt, in diesen Seitengassen wohnte Gott, Polen, Polyń, Polonia, Polania, po-lan-ja , hier-wohnt-Gott, drei hebräische Wörter, die aus dem slawischen Polen ein gelobtes Land der Juden machten, und sie wohnten alle hier, die Sprachgetriebenen, ich ließ ihn nicht aus den Augen, während er durch die engen Gassen zu seinen Kindern lief, und dann, hinter der nächsten Ecke, löste er sich von der Erde und flog durch den Sternenhimmel über dem Städtchen, warum nicht fliegen,
wenn es so viele Sorgen gibt, fliegen, verliebt, verträumt, so viele Kinder, eigene und Waisen, wie Sterne am Himmel, wie sechshundertdreizehn Gebote, mehr kann man auf einem Spaziergang nicht zählen, ich habe es probiert, sie fliegen Richtung morgen, parallel zu Zeit und Raum, manchmal quer dazu, der eigenen Flugbahn folgend und den weisen und strengen Büchern, die wir nie lesen und verstehen werden, die Wege des Städtchens schimmern dunkelgrün, mein nächtlicher Spaziergang, meine Jagd nach Schimon, dem Lehrer, der kleine bunte Glaskügelchen aus Wien in die Taschen seines schwarzen Lapserdakes steckt, der schwärzer ist als die Nacht, Lutschbonbons aus Lemberg, leicht säuerlich, denn die Sprache soll schmecken, und einen Stift hat er immer dabei, durch den Himmel jagen ihm ein kościół nach, eine Kirche, ein Krug, ein Kerzenständer, die Windsbraut im Himmel, der voll ist von fliegenden Objekten, noch eine Kirche mit kupfernen Zwiebeltürmen und schiefem, goldenem Kreuz, dann Geige und blaue Blume eines Jungen mit großen langbewimperten Augen, sie ziehen noch ein paar Kreise über der Erde ihres geliebten Polania, ihres gelobten Polonia, dem  Haus Gottes, und hier könnte die Geschichte einer Familie, eines Clans anfangen und vielleicht sogar diese Geschichte.
    Das Tor
    Meine erste Reise ins Ausland führte mich nach Polen. Es war im Sommer

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