Vielleicht Esther
ich jede Rolle an mir selbst, als gäbe es keine Vergangenheit ohne irgendein Als-ob, Wenn oder Falls.
Wo sind wir hier, in dieser Tabelle, Mama, fragte meine Tochter, ich war über ihre unvermittelte Art erschrocken, und um sie vor dem Schrecken zu bewahren, wollte ich schnell anfügen, dass wir auf diesem Bild gar nicht vertreten sind, wir wären doch damals in Kiew gewesen oder schon evakuiert, und übrigens waren wir überhaupt noch nicht geboren, diese Tabelle habe nichts mit uns zu tun,
und nun hätte ich beinahe doch wenn , aber und als ob gesagt, als ein Mann aus der geführten Gruppe sich zu mir wendete und sagte, wir haben übrigens bezahlt.
Noch bevor ich verstand, dass er mir sagen wollte, dass die Führung nicht kostenlos sei, und dass er meinte, dass auch ich unbedingt bezahlen solle, sonst seien wir Taschendiebe, ich und meine Tochter, als hätten wir diese Geschichte für acht Euro geklaut, obwohl, vielen Dank, so eine werde ich nicht klauen, bevor ich also verstand, dass wir ohne Bezahlung nicht vor und nicht auf der Tabelle hätten stehen dürfen, dass wir zu spät zum bezahlten Kreis hinzugestoßen waren, noch bevor oder schon als ich das alles dachte, kamen mir die Tränen, obwohl ich gar nicht weinte, etwas weinte in mir, ich wurde geweint, auch den Mann beweinte es in mir, obwohl er es nicht nötig hatte, denn er hatte recht, wir haben nicht bezahlt, oder doch, haben wir übrigens, aber es gibt immer jemanden, der nicht bezahlt hat.
Kapitel 2
Rosa und die Stummen
Schimon der Hörende
Wenn ein Mensch sich nicht findet,
wird er gänzlich von seinem Stamm verschluckt.
Altchinesische Weisheit
Sieben Generationen, sagte meine Mutter, zweihundert Jahre lang haben wir, meine Mutter sagte immer wir, haben wir taubstummen Kindern das Sprechen beigebracht, obwohl meine Mutter nie taubstumme Kinder unterrichtet hat, sie unterrichtete Geschichte, sie konnte doch nicht meinen, Taubstumme und Geschichte zu unterrichten sei ein und derselbe Beruf, aus ihrem Munde klang es, als wären wir in dieser selbstlosen Hingabe für immer gefangen, als wäre es auch zukünftigen Generationen nicht erlaubt, sich von der Pflicht des Wir zu befreien, der Pflicht, andere zu unterrichten, für andere zu leben, besonders für ihre Kinder. Diese sieben Generationen klangen wie im Märchen, als reichten sieben Generationen aus, um in die Ewigkeit zu gelangen, zum Wort.
Wir haben immer unterrichtet, sagte meine Mutter, wir alle waren Lehrer, und anderes ist uns nicht gegeben. Sie sagte es so überzeugt, als wäre es einer der in unserem Land so oft erprobten Sprüche wie Die Stimme eines Rufers in der Wüste , Der Prophet gilt nichts im eigenen Land .
Ihre Schwester, ihre Mutter, ihr Großvater und alle Geschwister des Großvaters, sein Vater und auch dessen Vater unterrichteten taubstumme Kinder, sie gründeten Schulen und Waisenhäuser und lebten mit diesen Kindern unter einem Dach, sie teilten alles mit ihnen, sie kannten keinen
Spalt zwischen Beruf und Leben, diese Altruisten, meine Mutter liebte dieses Wort, sie waren alle Altruisten, sagte sie, und sie war sich sicher, dass auch sie das altruistische Erbe in sich trug, aber ich wusste, dass ich es nicht mehr hatte.
Als meine Mutter mir erzählte, wie unsere Ahnen sich über ganz Europa verteilten und Schulen für Taubstumme gründeten in Österreich-Ungarn, in Frankreich und Polen, erinnerte ich mich an die Passage aus dem Alten Testament, wie ich dachte, aber es steht im Neuen: Abraham zeugte Isaak. Isaak zeugte Jakob. Jakob zeugte Juda und seine Brüder. Juda zeugte Perez und Serah von Thamar – und weitere fremde Namen. Ich kannte diese Passage so vage wie meine eigene Genealogie, mir schien aber, dass auch unsere Reihe der Ahnen kein Ende hatte, dass sie, einer nach dem anderen, jenseits unseres Sehvermögens und hinter dem Horizont der Familienerinnerung, taubstummen Kindern das Sprechen beibrachten. Hören Sie ihr glühendes Flüstern?
Sch'ma Israel, morgens und abends, Sch'ma Israel, höre Israel, höre mich
Der erste, den wir namentlich kannten, hieß Schimon Heller, auf Russisch Simon Geller. Vielleicht folgte er dem Ruf seines hebräischen Namens, denn Schimon bedeutet der Hörende, derjenige, der von Gott gehört hat und von ihm erhört wird. Der erste Jünger, der auf Jesus hörte und ihm folgte, hieß auch Simon, dachte ich, obwohl diese Geschichte für meine jüdischen Verwandten keine Bedeutung
hatte. Mein Schimon gründete eine
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