Vielleicht Esther
Schule für taubstumme Kinder in Wien, in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Er brachte Kindern das Sprechen bei, damit sie gehört wurden, sonst galten sie seinen Glaubensbrüdern als geisteskrank, denn Verstand und Vernunft, so dachten sie damals, sitzen in der gesprochenen Sprache. Wer gehört wird, gehört dazu.
Laut für Laut, Wort für Wort, Tag für Tag lernten sie beten.
Ich war in der Familie der Brudervölker der Sowjetunion aufgewachsen, alle waren gleich, und alle mussten meine Muttersprache lernen, Gebete jedoch nicht, zu meinem Wir gehörten alle. Nicht ohne Stolz war ich überzeugt davon, dass meine Ahnen die Waisenkinder aller Völker unterrichteten. Unzulässig lange konnte ich mir nicht vorstellen, welche Sprache meine Verwandten damals gesprochen haben, welche Sprache sie den Kindern beibrachten. Aus meiner kosmopolitischen Gegenwart dachte ich, sie hätten den Taubstummen in allen Sprachen der Welt das Sprechen beigebracht, als wäre Taubstummheit, wie auch der Waisenstand, ein leeres Blatt – die Freiheit, jede Sprache und jede Geschichte zu seiner eigenen zu machen. Unser Judentum blieb für mich taubstumm und die Taubstummheit jüdisch. Das war meine Geschichte, meine Herkunft, doch das war nicht ich.
Sch'ma Israel, höre mich Israel, wo ist Israel?
Ich bewegte mich durch Stapel von Dokumenten, suchte nach uns in den alten Schriften und im Internet. Der Suchbefehl markierte das Wort taub gelb, als wüsste Google,
dass Gelb die Farbe des Judentums ist, so wie ich wusste, dass Google alles Gesuchte leuchtend gelb markiert. Jede Geschichte mit dem gelben Taub wurde zu einem Baustein meiner Vergangenheit, meines Internet-Judentums. Vielleicht kamen die Meinigen direkt aus dem Talmud, aus der Geschichte der zwei Taubstummen, die nicht weit vom Rabbiner wohnten und ihm immer in die Schule folgten, in der er unterrichtete, und die neben ihm saßen, ihn aufmerksam beobachteten und dazu ihre Lippen bewegten. Der Rabbiner betete für sie, und irgendwann wurde festgestellt, dass sie alles wussten, was der Rabbiner seinen Schülern beigebracht hatte, sie hatten alles gelernt, mit den Augen. Ich versuchte, allen anderen Geschichten mit dem gelben Taub zu folgen, ich las die Stellen um die gelben Markierungen und erwartete, dass diese tauben Geschichten irgendwann aufflattern würden und anfangen zu leben.
Am Anfang meiner Familiengeschichte stand eine Übersetzung. 1864 schrieb der Schriftsteller und Aufklärer Faiwel Goldschmidt in einer jiddischen Zeitung in Lemberg einen Artikel über Simon Geller und seine Schule, voller Begeisterung für Simons Persönlichkeit und sein Wirken. Sechzig Jahre später wurde der Text von Simons Enkel, Ozjel Krzewin, ins Russische übersetzt, wieder sechzig Jahre später entdeckte meine Mutter Ozjels Übersetzung in einem Archiv in Kiew, zusammen mit anderen Dokumenten über die Schulen unserer Verwandten. Doch die jiddische Zeitung mit Goldschmidts Artikel war nicht mehr auffindbar. So gründet die Herkunft unserer Familie in einer fragwürdigen Übersetzung ohne Original, und ich
erzähle die Geschichte dieser Familie nun auf Deutsch, ohne dass es für sie je ein russisches Original gegeben hätte.
Meine Mutter sagte, immer mit dem Stift, sie alle lernten mit dem Stift, die Spitze im Mund des Lehrers, das Ende im Mund des Kindes. Das hatte nicht in Goldschmidts Artikel gestanden, aber meine Mutter wusste Bescheid, sie erzählte vom Stift, amüsiert über den einfachen Trick und doch etwas erschrocken über die Nähe der Münder. Der Stift vibrierte, und die Kinder spürten, wie aus der Zunge die Sprache entsteht.
»Für jede, auch für die schwerste Krankheit schickt Gott der Herr eine Heilung«, übersetzte Ozjel Krzewin den Artikel über seinen Großvater, als wäre dieser einer der Heiligen des jüdischen Lebens. Nach zwei Jahren konnten die Kinder hebräisch und deutsch lesen und schreiben, und sie konnten fließend von den Lippen ablesen. Nach fünf Jahren hätten Gellers Schüler so sprechen können, dass ihre Reden sich kaum von denen jener unterschieden, die mit dem Gehör beschenkt worden waren. Sie bewegten ihre schweren Zungen, hoben die Steine der Laute, ihr Prophet Mose hatte auch einen schwerfälligen Mund und eine schwere Zunge gehabt.
Als Schimon noch in Wien war, kam ein erwachsener Mann in seine Schule. Sein Vater war gestorben, doch er konnte nicht beten, denn er war taubstumm. Er wollte in der
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