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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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Gestorbenen »ihre Namen zurückgegeben«, ohne Anregung oder Auftrag von offizieller Seite. Sie treten dieses Erbe freiwillig an, es geht ihnen um ihre Heimat.
     
    Das Gästebuch ist in einem Häuschen untergebracht wie auch die Liste mit den Namen der Begrabenen.
     
    Seit so vielen Jahren grüße ich all jene, die hier begraben liegen, jedesmal, wenn ich vorbeifahre. Nun stehe ich zum ersten Mal hier, und die innere Größe und Ruhe dieses Platzes ist unbeschreiblich. Danke an jene, die diese Stätte pflegen! Wenn ich etwas tun könnte, würde ich einen Brunnen bauen, aus dem frisches, klares, lebensspendendes Wasser fließt, zum Zeichen, dass die Karfreitage unseres Lebens nie das letzte Wort haben.
     
    Neben dem Gästebuch liegen die Hefte des Österreichischen Schwarzen Kreuzes, der Kriegsgräberfürsorge, die auf ihrer Website für »Versöhnung über den Gräbern« wirbt.
     
    Auch ich war ein Kriegsgefangener, erst bei Borodino, dann in Moskau, und ich gedenke hier der sowjetischen Soldaten, doch auch meiner vielen in Gefangenschaft verstorbenen Kameraden.
    Es ist kein Zufall, dass ich an einem Karfreitag hierher gekommen bin
    Der Zufall hat mich und meinen Hund hierher geführt
    мой отец был здесь
    dank dem Internet sind wir hier
    Warum heißt es Russenfriedhof, wenn auch Serben hier liegen?
    my father was here
    počivajte v miru
    I visited here as my grandpa …
    in grosser Dankbarkeit und Trauer
    à la mémoire du mon grand-père
     
    Das Buch liegt seit drei Jahren hier. Die Kinder und Enkel der Kriegsgefangenen kommen immer noch – oder erst jetzt. Adi, ein im Krieg geborener Adolf, betreut den Friedhof, er hat eine Idylle geschaffen, als wollte er sich durch diese Gräber mit seinem Namen versöhnen.
     
    Again we returned to this hallowed site and we are glad to see the entries of so many visitors. We escaped Hitler's Holocaust in 1939 but lost all our relatives in Poland. We hope for peace
     
    Wir denken hier an die armen sowjetischen Kriegsgefangenen, aber auch an meinen ersten Mann, der in Stalingrad vermisst wird
     
    Der Eintrag stammt vom 24.07.2010. Siebenundsechzig Jahre nach der Schlacht um Stalingrad schreibt diese Frau vermisst wird , als habe sie die Meldung eben erst erhalten.
    Hans
    Mein Großvater wurde in Rowno geboren, was so etwas wie Fläche bedeutet, eine glatte, gerade Ebene. Er hat in Rowno, in Kiew und in der Westukraine auf dem Land gearbeitet. Obwohl er vor dem Krieg einen hohen Posten be
kleidet hatte, waren keine Papiere zu finden, und niemand wusste über seine Tätigkeit genauer Bescheid. Nur seine Kriegsgefangenschaft war mir zugänglich, sie ließ sich beweisen und entfaltete sich mir auf den Reisen, den Spaziergängen um das Stalag herum, ich träumte von Wanderungen durch das Land, er war Landwirt gewesen, und wo, wenn nicht auf dem Land, könnte ich ihn finden?
     
    Wir fuhren Richtung Flachau, wir, die Geschichtslehrerin, die sich für den Friedhof eingesetzt hatte, der Historiker Michael, dessen Eltern als Pächter auf dem Gut des Grafen Plaz gelebt hatten und der alles wusste über die Geschichte der Gegend, der Schriftsteller O. P. Zier und ich. Ich war noch nie richtig wandern, in meiner Muttersprache gibt es dafür nicht einmal ein passendes Wort, auf Russisch können wir nur pilgern oder wandeln. Dort, wo unser Wanderweg anfing, saßen mehrere Frauen mit zahlreichen Kindern auf der Erde, nur zwanzig Meter vom Parkplatz entfernt, alle schwarzgekleidet. Wir lächelten unsicher. Saudis, sagte Michael kundig. Was machen sie hier auf der Straße?, fragte ich. Sie kühlen sich ab, sagte Michael, ohne Ironie, sie setzen sich hin, immer am Anfang der Wanderwege, und dort bleiben sie auch. Sie kommen mit den Flugzeugen aus ihren überhitzten Städten, fahren mit den Zügen und dann mit ihren Autos, und nun sind sie an dem Ort angekommen, der für uns der Ausgangspunkt ist.
    Letztes Jahr, sagte Michael, waren orthodoxe Juden hier, aus Israel, auch sie mit Dutzenden von Kindern, alle schwarzgekleidet wie die Saudis, im Hochsommer, völlig am Wetter vorbei. Als es anfing zu regnen, rannten sie alle auf die Straße, die Einheimischen blieben zu Hause, aber
die Fremden gingen nach draußen und jubelten über den Regen, die Saudis und die Juden.
    Wir gingen einen kleinen Bach entlang, der lauter war, als er aussah, zu Hans, einem Bauern, der in den Bergen wohnte, ganz allein, ohne seine Frau, so erzählte Michael. Für ihn sei die Luft da unten zu dick,

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