Vielleicht Esther
ich sei nicht
ihre Kundin, und als ich erklärte, dass ich unbedingt einen Anruf machen müsse, ob sie mir helfen könne, bitte, es gebe keine Telefonzellen in Salzburg, sagte sie nein, und sie hatte recht, ich war nicht ihre Kundin, ihre Kunden würden sich nicht bei der kleinsten Ungerechtigkeit aufregen wie ich, und nein ist nein, ich fragte weiter nach Hilfe oder einer Lösung, als wäre es wirklich lebenswichtig, anzurufen, als würde ich hier auf der Stelle ein Kind oder einen Herzinfarkt bekommen, ich stellte mir das lebhaft vor, ich sterbe, und sie sagt nein, nur für Kunden, und wer sich so aufregt wie ich, als ginge es um die Fähigkeit zu töten, obwohl man nur die Hilfe nicht bekommt, die man braucht, kann kein Kunde sein, denn wäre ich ihre Kundin, könnte mir geholfen werden, sie war nicht schuld, dass ich gehen musste, ich war schuld, dass ich nicht ihre Kundin war, ich gehörte nicht ins grell beleuchtete Paradies ihrer Filiale zwischen Mozarthaus und Traklhaus, ich hatte keinen Draht zu Genies, nicht einmal ein Netz.
Die Züge fuhren trotzdem. Ich nahm einen nach St. Johann im Pongau und fuhr durch die ruhige Landschaft, die Schaffnerin scherzte mit einem kuwaitischen Geschäftsmann auf Englisch, sei gegrüßt Österreich, der Fluss folgte unserer schnellen Bewegung, als wäre er mein heimlicher Verbündeter, an den Brücken standen Milchkanister mit www.milch.com auf dem Bauch, Milch, die im Internet floss, in weißen Strömen, während ich immer noch kein Netz hatte, keinen Zugang zu den Brüsten des Universums, keinen Schutz, dabei trinke ich doch gar keine Milch, aber ich folgte der Milchstraße, der Milchstraße eines Landwirts und Viehzüchters.
Vielleicht hatte die Natur längst jede Art von Gewalt in ihren Kreislauf eingeschlossen, die schweren Schritte der durchmarschierenden Armeen, die vor Hunger sterbenden reichen Dörfer, die Granattrichter, die Gräber und die Unbegrabenen, und dort, wo wir Ruhe suchen, fand längst die Verwandlung statt, mit jedem Atemzug und jedem Apfelbiss werden wir Teil davon, Teil der Vergiftung und der Sünde, die wir nicht begangen haben, und auch die Unkenntnis der Naturgesetze kann uns von dieser Sünde nicht befreien. Wenn Kain Abel getötet hat und Abel keine Kinder hatte, wer sind dann wir?
Russenfriedhof
Verschieden die Sterblichkeit
Rechts und links von der Bahn
Erich Fried
Diese Zufahrt gibt es erst seit ein paar Jahren, eine Geschichtslehrerin aus St. Johann im Pongau hat sie erkämpft und auch das Schild an der Bundesstraße, Russenfriedhof, eine knappe Stunde hinter Salzburg. In Erwartung von etwas Russisch-Orthodoxem, von etwas Üppigem mit Kreuzen und Gold fährt man hinunter, und dann findet man nur Obelisken mit einem roten Stern auf der Spitze. Links fünf Gräber für Offiziere, in der Mitte ein großes Mahnmal für dreitausend Namenlose, dann noch ein Mahnmal für 31 Tote und zwei Monumente für Serben, die namentlich aufgelistet sind. Eine Einrichtung der Befreier, ent
standen kurz nach dem Krieg, niemand weiß genau, wann und nach welchem Plan.
Erst wurden Franzosen ins Stalag XVIII gebracht, dann Serben. Ab 1941 kamen sowjetische Kriegsgefangene, zwei Drittel von ihnen waren auf der Fahrt gestorben. Die Franzosen durften im Lager Süd arbeiten und essen, sie feierten Gottesdienst, hatten ihren eigenen Sportplatz, eine eigene Zeitung, Le Stalag XVIII C vous parle , sie spielten Theater und durften Filme schauen, sie bekamen Post und Lebensmittelpakete vom Roten Kreuz. Am Nationalfeiertag ertönte über St. Johann, das damals Markt Pongau hieß, die Marseillaise. Die sowjetischen Gefangenen im Lager Nord dagegen, die Alliierten der Franzosen, aßen Gras. Sie starben an Unterernährung und Krankheit, sie wurden schlechter behandelt als Vieh, Nutztiere waren ein Produkt der Zivilisation, Bolschewiken nicht. Mein Großvater hatte das Glück, kein Jude zu sein, die jüdischen Soldaten und Offiziere waren bereits im Lager Wladimir-Wolynskij erschossen worden, und nun überlebte er auch das Lager Nord des Stalag XVIII .
Der Friedhof liegt zwischen der Bundesstraße und der Salzach in einem engen Tal, geborgen wie in der Kuhle einer Hand. Auch ich fühle mich hier geborgen in dem frischen Grün, im Schatten der Bäume zwischen den Denkmälern. Die russischen Namen, die auf den Obelisken fehlen, stehen in einem Ordner. Schüler des hiesigen Gymnasiums haben zusammen mit ihrer Lehrerin jahrelang recherchiert und den
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