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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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naiv, dass ich, wo Berge und Täler im Atemrhythmus wechselten, keine asphaltierten Wege sah, sondern ich wanderte in meinem geträumten Österreich den staubigen, mit Unkraut bewachsenen Straßenrand entlang, und Autos überholten mich, Autos, auch ganz neue, die direkt aus der Fernsehwerbung in meinen Traum gefahren waren, voll besetzt mit Menschen, die von hier nach dort fuhren, die genau wussten, wofür und weshalb, sie fuhren an mir vorbei, und ich wurde von dem aufgewühlten Staub gestreift und in seine Fahnen gewickelt, sie waren viel schneller am Ziel als ich, weil sie das Ziel kannten, oder besser gesagt, weil sie den Punkt ihres Ankommens für das Ziel hielten und das Ziel für die Lösung. Ich überließ mich dem Weg wie dem Strömen eines Flusses, durch breite Täler, die sich räkelten wie schlaftrunkene Frauen, immer wieder neue Winkel der Landschaft öffnend. Ich wurde verschlungen vom Grün, der Sonne, dem blauen Himmel. Die Rapsfelder waren so gelb, dass ich blinzeln musste vor Glück. In diesem Wander
traum habe ich sogar vergessen, dass ich eine Frau bin, ich wanderte wie ein Geselle mit seinem Bündel, vergaß mich komplett und sah nur noch die Wege.
     
    Nach dem Aufwachen studierte ich Landkarten. Österreich sieht aus wie ein leicht erregter ältlicher Phallus. Ich suchte Mauthausen, dann die Außenstellen von Mauthausen, dann das Stalag XVIII C (317). Auf Russisch schreibt man Jahrhunderte in römischen Zahlen: Wenn ich Stalag XVIII sehe, denke ich an das XVIII . Jahrhundert, die Aufklärung, die Eremitage in St. Petersburg, Katharina die Große. Die Karte aus dem Internet verzeichnet alle Lager auf österreichischem Boden, Kriegsgefangenen-, Arbeits- und Konzentrationslager. Österreich ist übersät mit kleinen Punkten, wie der Himmel in einer klaren Nacht. Hunderte von Pünktchen, Myriaden, mit Namen und Funktionen. Wenn man die Karte in den Maßstab der Wirklichkeit übersetzt, könnte man vielleicht verstehen, dass die Menschen nicht wussten, was im Nachbardorf geschieht, denn zwischen den Sternen liegen Tausende von Lichtjahren, aber im Maßstab meiner Recherche waren es zu viele Punkte, viel zu viele für dieses schöne Land.
     
    Ich träumte von grünen Samtteppichen, die wie Alpwiesen aussahen und zu verschiedenen Imperien und Königshäusern gehörten, verziert mit Perlen und Granat-Edelsteinen, sie lagen auf dem frischen sanften grünen Samt. Ich bestickte den Samt mit kleinen Edelsteinen – in Gold, Grün, Dunkelrot, Weiß. Die Bilder waren vorgegeben, rätselhafte Ornamente, nie gesehene Sternbilder, das Sticken war viel Arbeit oder Zauberei. Als ich erwachte, war alles
schon fertig, wie in den Märchen von der weisen Wassilissa, die kochte, nähte und webte, wenn die anderen schliefen, denn der Morgen ist klüger als der Abend. Ich staunte über meine Arbeit, meine Zauberei.
     
    Am Morgen, als auch dieser Traum verlöschte und der grüne Samt wieder zur Landkarte von Österreich wurde, verwandelten sich die Perlen wieder in die Außenstellen von Mauthausen.
     
    Im Flugzeug las ich Thomas Bernhard, denn auch bei dieser Reise musste ich einen bestimmten Wissensstand erreichen, um das Land betreten zu dürfen, sonst lassen mich die Zöllner nicht hinein. Ich brauche mich nicht in der Angst zu üben, ich höre das Geschrei auf dem Heldenplatz und sehe die jubelnde Menge, als ob ich am Rande des Platzes stünde. Das Geschrei von damals übertönt den Flugzeugmotor, und die Vergangenheit lastet auf mir wie ein schwüler Traum. Wenn ich jetzt nicht aufwache, ersticke ich.
    Beim Großvater
    Die Menschen sitzen auf Pritschen. Ich stehe auf der Schwelle. Es sind nicht viele, es müssten viel mehr sein. Es sollte überfüllt sein. Die Baracke ist endlos lang, ich weiß gar nicht, ob sie irgendwo endet, ich sehe nur die ersten Reihen der Pritschen. Hier sollte mein Großvater sein, genau hier. Man denkt immer, dass der, den man sucht,
brav in der ersten Reihe sitzt. Man muss nur kommen, und man wird sofort erkannt und begrüßt. Herzlich willkommen in Mauthausen! Kommen Sie herein!
     
    Ich komme nicht herein. Ich bleibe auf der Schwelle stehen. Die Menschen schauen mich an. Sie haben nur Augen. Sie schauen mich an, als wäre ich der Messias. Ich stehe genau dort, wo er hereinkommen soll, auf der Schwelle. Sie warten auf den Messias. Ich möchte, dass sie warten. Ich möchte die Luft verschenken.
     
    Ich ziehe bunte Bänder aus meinen Hosentaschen. Noch mehr, noch mehr. Bunte Farben

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