Vielleicht Esther
auf dem verblichenen Schwarzweiß. Wie ein Clown. Ich kann alles. Sie warten. Ich bin hilflos. Ohne Ende ziehe ich bunte Bänder aus den Taschen, ich will Freude verbreiten. Wie soll ich mich hier benehmen? Hier im KZ .
Ich wollte nicht in die Baracken hineingehen, diese Luft riechen, diese Körper sehen. Nun gehen wir hinein, ohne an die Tür zu klopfen, als ob es ein Spaziergang wäre. Nur weil es keine Türen gibt? Ich möchte diese Menschen vor unseren Blicken schützen, ihnen Vorhänge nähen. Schleier.
Mein Großvater war Landwirt, Viehzüchter. Was dachte er über diese Baracken? Ich versuche, ihn zu erkennen in diesen Augenreihen. Ich versuche, Gesichter zu entschlüsseln. Hier kann man nur zählen. Ich kann aber nicht gut zählen. Ich weiß nicht genau, was man addieren oder ergänzen müsste, um zu einem normalen Gesicht zu kommen, um einen Menschen zu erkennen.
Alle haben diese Augen.
Es müsste doch überall Dreck sein. Ich habe davon gelesen. Der Tod müsste stinken. Aber ich rieche nichts. Ich höre nichts. Ich sehe nur. Sie sind Geister. Es stimmt, nicht alle sind gute Menschen. Man muss unterscheiden. Aber wozu, sie sind schon alle hier.
Ich suche meinen Großvater. Ich bin gekommen, um ihn abzuholen. Ich weiß, er wiegt nun 49 Kilo. Doch damit fällt er hier nicht auf. Keiner wiegt mehr. Meinen Sie, dieses Bild sei unzumutbar? Keine Sorge. Es ist angemessen. Ich habe dieses Wort vor kurzem gelernt. Das gestalterische Konzept unseres Ortes der Information würdigt die Katastrophe in angemessener Weise.
Unerträglich könnte man sagen. Es ist unerträglich. Doch für das Unerträgliche gibt es kein Wort. Wenn das Wort es erträgt, dann ist es auch erträglich.
Wir bleiben auf der Schwelle. Hier ist alles angemessen, die Baracken, das Gewicht, die Augen. Jemand muss sich das alles ausgedacht haben, jemand mit einem Gefühl für Proportionen. Ein Landwirt? Ein Architekt? Ein Optiker?
Was mache ich hier überhaupt? Was bringt mich hierher? Diesen Menschen wurde alles genommen, sagen alle, und auch ich sage es. Ich stehe auf der Schwelle, über die auch der Henker tritt.
Mein Großvater sitzt in dieser Baracke. Verleiht mir das besondere Rechte? Ist es eine Einladung? Eine Entschuldigung? Eine Mission? Ich werde nicht in die Vergangenheit katapultiert. Es passiert jetzt. Wann, wo und mit wem es passiert, spielt keine Rolle.
Wer bin ich hier? Darf ich hinschauen?
Mein Mann sagt, du bist als Enkelin da, du darfst
Mein Vater sagt, du hast eine schwierige Aufgabe
Mein Bruder sagt, recherchieren, recherchieren, recherchieren
Meine Mutter sagt, du hast Brei im Kopf, aber ein gutes Herz
Meine Freundin sagt, Krieg und Frieden ist auch in zwei Sprachen geschrieben, in der Sprache des Krieges und in der Sprache des Friedens
Mein Engel sagt, es gibt eine Fortsetzung. Dann bläst er in die Posaune
Mein Großvater schweigt und lächelt
Von Gott gibt es keine Nachricht. Keinen Pieps
Und ich bleibe, wo ich bin, auf dieser Schwelle. Ich finde meinen Großvater in dieser Baracke nicht. Ich hatte gehofft, er würde mir winken und flüstern, Hier, hier, ich bin hier!
Milchstraße
Ich wollte über Kirchen und Museen lesen, aber mein erster Fang im Netz war das Buch Im Schatten der Mozartkugel über Orte in Salzburg, die mit der NS -Vergangenheit verbunden sind. Die Suchmaschine kennt meine Präferenzen – Katastrophen zuerst. Allein in der Region Salzburg gab es 33 000 gemeldete Nazis, genauso viele wie ermordete Juden im ersten Massaker in meiner Heimatstadt. Nicht nur die Natur, auch die Geschichte liebt die Symmetrie.
Mein Großvater war vielleicht nur einen Tag lang in Salzburg. Warum wurde er als Einzelner nach Mauthausen verlegt? Hat er bei Bauern gearbeitet und zu fliehen versucht? Historiker meinen, er hätte nach Dachau überstellt werden sollen. Warum wundern sie sich nicht darüber, dass er nicht sofort getötet wurde? Überall tötete man oder ließ sterben, warum musste man sich mit einer Einzelperson überhaupt beschäftigen?
Mitten in dieser Frage erlosch mein Telefon, als hätte mir jemand die Nabelschnur zum Universum abgeschnitten. Ich nahm es persönlich. Das Weltall schien meine Unternehmung nicht mehr zu unterstützen, und ich zweifelte, ob noch Züge nach St. Johann fuhren, wenn mein Telefon schon nicht mehr funktionierte.
Im Geschäft des größten österreichischen Mobilfunkanbieters wurde mir von einer Dame erklärt,
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