Vielleicht Verliebt
Hoffentlich ist der Käfer inzwischen nicht unbemerkt abgehauen! An den Ein- und Ausgängen tut sich nichts. Der Konfettischnipsel liegt einsam da und glitzert in der Morgensonne wie eine Diskokugel in einem leergefegten Tanzsaal.
Elisa wartet.
Und wartet.
Eigentlich darf man in Käferexperimente nicht eingreifen. Das würde das Schicksal stören. Sinn des Ganzen ist es ja, den Käfer nur zu beobachten und zu deuten, was er tut. So kann man dem kosmischen Plan bei wichtigen lebenstechnischen Angelegenheiten ein bisschen in die Karten gucken. Hat hunderttausend Mal hervorragend geklappt.
Aber wie soll Elisa bitte schön etwas deuten, wenn sie den Käfer nicht sieht? Sie weiß ja nicht mal, ob er überhaupt noch da ist!
»Das ist ein Notfall«, murmelt sie und nimmt das Froschgebirge auseinander: Der Käfer. Ist. Verschwunden.
»Ich fass es nicht.« Sie faltet – einen nach dem andern – die Frösche auf. Den mit den blauen Blümchen. Den mit den roten Karos. Den mit den gelb-orangen Zickzacken. Und da! In der Maulfalte vom uniblauen findet sie ihn endlich. Seelenruhig klebt er am Papier, ohne sich zu mucksen.
Der pennt!
Ob das ein Zeichen ist?
Durchs Fenster weht wieder eine Lavendel-Windbö und Juni rappt auf der Wiese: »Tris-tan! Tris-tan! Komm jetzt! Ko-ko-ko-komm jetzt!« Mai macht dazu rhythmische Pupsgeräusche mit dem Mund.
Was könnte es bedeuten, dass der Schicksalskäfer so kurz vor dem Ziel schlappmacht? Findet der kosmische Plan vielleicht, dass Elisa gar nicht wissen soll, ob sie verliebt ist oder nicht? Müssen sich erst mehr Glühwürmchen ansammeln oder das Gesumm lauter werden oder noch mehr Konfetti niedergehen? Oder weniger? Hat das Schicksal sich vielleicht einfach noch nicht entschieden? Findet es die ganze Sache vielleicht genauso verwirrend wie Elisa?
Eigentlich dachte sie nämlich immer, sie würde sich in jemanden verlieben, der so ähnlich ist wie sie. Jemand, mit dem sie zugewachsene Waldwege entdecken und freischlagen und dann ausprobieren kann, wo sie hinführen. Jemand, der es gerne wuselig und voll und laut hat. Jemand, der an den kosmischen Plan glaubt. Jemand, der ihr in der Fußgängerzone bei der Passantenbefragung zum Thema ›Hat das Universum Grenzen und wenn ja, warum?‹ hilft. Jemand, der gerne bei Regen draußen ist und am liebsten von allem auf der Welt Schnee isst.
Und nun ist es (vielleicht) Joram.
Joram, der noch nicht mal bei Sonnenschein gerne draußen ist. Joram, der stundenlang mutterseelenallein am Klavier sitzt und immer wieder dieselben Tonleitern übt, ohne sich zu langweilen. Joram, der nicht an den kosmischen Plan, sondern an Logik und Zufälle glaubt. Der so schüchtern ist, dass seine Ohren sogar rot anlaufen, wenn er mit Leuten redet, die er gut kennt. Was bei einer Passantenbefragung mit diesen Ohren passieren würde, will Elisa lieber nicht ausprobieren. Ob er Schnee mag, weiß sie nicht. Aber mit einer selbst geschnitzten Machete im Wald kann Elisa ihn sich definitiv nicht vorstellen.
Vielleicht explodiert deswegen kein Feuerwerk? Braust kein Orkan? Singt kein Chor?
»Tristan! Tris-tis-tis-tis-tan! Komm jetzt! Jetzt, uh jähr!«
Aber sein Duft! Und seine klugen Augen, die alles ganz genau beobachten. Wie er zuhört, mit dem Höchste-Konzentrations-Mund, und anschließend was sagt, das Elisa total umhaut. Wie er Juni stundenlang ihr Lieblingsbuch vorliest, immer und immer wieder von vorne, ohne die Geduld zu verlieren. Und wie er es manchmal sogar schafft, Mai zum Lächeln zu bringen, was außer Opa Eins noch keinem Mann gelungen ist! Na gut, vielleicht noch Tristan.
Selbst wenn Joram einfach nur irgendwo sitzt und gar nichts macht, steuert Elisa automatisch auf ihn zu. Auf den ersten Blick ist er nur ein unauffälliger schwarzer Stein, aber wenn sie in seine Nähe kommt, merkt Elisa, dass er in Wirklichkeit ein Magnet ist. Und Elisa die Büroklammer. Oder so.
Sie beguckt sich den schlafenden Käfer auf dem aufgefalteten Frosch. Die Sache ist echt kompliziert. Kein Wunder, dass der arme Kerl damit überfordert ist.
Es weht wieder so eine Brise durchs Fenster. Noch kühl von der Nacht, aber mit einem watteartigen Nachwind, der ›Heute wird ein heißer Tag‹ flüstert. Elisa legt den Käfer sanft auf der Fensterbank ab und hängt sich ein Stück raus in den Morgen. Von Tristan und dem Umzugswagen noch keine Spur. Der Rap ist inzwischen zu Opern-Gesang mit Mundharmonikabegleitung mutiert. Würdevoll schreiten die Musiker im Gänsemarsch
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