Vier moralische Schriften
philosophischem, und er ist als weltweites Vorbild propagiert worden. Er hat nicht nur unser moralisches Gewissen getroffen, er hat auch unsere Philosophie und unsere Wissenschaft, unsere Kultur, unsere Vorstellungen von Gut und Böse aufs Spiel gesetzt. Er hat versucht, sie zunichte zu machen. Ein solcher Versuch konnte nicht unbeantwortet bleiben. Und die einzige Antwort konnte nur sein, daß er nicht nur damals, sondern auch fünfzig Jahre danach und in allen nachkommenden Jahrhunderten nicht tolerierbar sein wird.
Es ist dieses Untolerierbare, vor dessen Hintergrund es wie eine Eiterbeule erscheint, wenn die Holocaust-Leugner ihre schändliche Buchführung aufmachen und berechnen, ob die Toten wirklich sechs Millionen waren – als ob man bei fünf, vier, drei, zwei, einer Million zu einer Verständigung gelangen 69
könnte. Und wenn sie nicht vergast worden, sondern »nur« an zu geringer Versorgung gestorben wären? Wenn sie an Allergie gegen Tätowierung gestorben wären?
Das Untolerierbare als untolerierbar anzuerkennen heißt jedoch, daß in Nürnberg alle zum Galgen verurteilt werden mußten, auch wenn es nur einen Toten gegeben hätte, und das durch unterlassene Hilfeleistung. Das neue Untolerierbare ist nicht nur der Völkermord, sondern auch seine theoretische Rechtfertigung. Und diese betrifft auch die Handlanger des Massakers und macht sie mitverantwortlich. Angesichts des Untolerierbaren werden die differenzierten Diskurse über die Intentionen, den guten Glauben und den Irrtum hinfällig: da gibt es nur noch die objektive Verantwortung. Aber – sagt der Handlanger – ich habe die Leute doch nur in die Gaskammer getrieben, weil man es mir befohlen hatte, in Wirklichkeit habe ich geglaubt, sie würden zur Desinfektion geschickt. Spielt keine Rolle, tut uns leid, wir stehen hier vor der Epiphanie des Untolerierbaren, da gelten die alten Gesetze mit ihren mildern-den Umständen nicht mehr; wir werden auch dich zum Strang verurteilen.
Um diese Verhaltensregel anzunehmen (die auch für das in Zukunft Untolerierbare gilt, das uns zwingt, Tag für Tag neu über die Grenze des Tolerierbaren zu entscheiden), muß eine Gesellschaft bereit sein, viele Entscheidungen zu treffen, auch harte, und jedesmal solidarisch die Verantwortung auf sich nehmen. Was uns im Fall Priebke als dunkle Ahnung beunruhigt, ist die Erkenntnis, daß wir von dieser Entschiedenheit noch weit entfernt sind. Die Jungen ebenso wie die Alten, und nicht nur wir Italiener. Alle haben sich die Hände in Unschuld gewaschen – schließlich gibt es Gesetze, überlassen wir diesen Unseligen den Gerichten.
Natürlich könnten wir heute sagen, nach dem jetzt in Rom ergangenen Urteil sei diese Fähigkeit zur solidarischen Definition des Untolerierbaren in noch weitere Ferne gerückt. Aber sie 70
war auch vorher schon zu fern. Und das ist es, was an uns nagt.
Zu entdecken (aber ohne es uns einzugestehen), daß wir mitverantwortlich sind.
Und so fragen wir uns nicht, wem die Stunde schlägt.
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