Vier moralische Schriften
ist (andere nennen sie »Seele«), die wir durch die Art unserer Lebensführung entwickelt haben, weshalb sie auch aus persönlichen Erinnerungen und Gewissensbissen besteht und folglich aus unheilbarem Leiden, oder aus dem Gefühl der Befriedigung über vollbrachte Pflicht, und aus Liebe.
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Aber Sie sagen, ohne das Wort und Beispiel Christi fehle es jeder weltlichen Ethik an einer grundlegenden Rechtfertigung, die eine unausweichliche Überzeugungskraft hätte. Warum dem Nichtgläubigen das Recht entziehen, sich das Beispiel des vergebenden Christus zu Herzen zu nehmen? Versuchen Sie einmal, Carlo Maria Martini, zum Wohle der Diskussion und der Gegenüberstellung, an die Sie glauben, wenigstens für einen Augenblick die Hypothese zu akzeptieren, daß es Gott nicht gebe. Daß der Mensch durch einen Irrtum des täppischen Zufalls auf der Erde erschienen sei, nicht nur seiner Sterblichkeit ausgeliefert, sondern auch dazu verurteilt, ein Bewußtsein zu haben, mithin als das unvollkommenste aller Wesen (gestatten Sie mir den Leopardianischen Ton dieser Hypothese). Dieser Mensch würde nun, um den Mut zu finden, auf den Tod zu warten, notgedrungen ein religiöses Wesen werden, er würde sich bemühen, Erzählungen zu ersinnen, die ihm eine Erklärung und ein Modell liefern könnten, ein exemplarisches Bild. Und unter den vielen, die er sich ausdenken könnte – manche strahlend, manche erschreckend, manche pathetisch tröstlich –, hätte er in einem bestimmten Moment, wenn er zur Erfüllung der Zeit gelangt ist, die religiöse, moralische und poetische Kraft, das Modell des Christus zu konzipieren, das Modell der universalen Liebe, der Vergebung für die Feinde und des zur Rettung der anderen geopferten Lebens. Wenn ich ein Reisender aus einer fernen. Galaxie wäre und vor einer Spezies stünde, die sich dieses Modell zu geben gewußt hat, würde ich überwältigt ihre enorme theogone Energie bewundern und würde diese jämmerliche und niederträchtige Spezies, die so viele Greuel begangen hat, allein dadurch als erlöst betrachten, daß sie es geschafft hat, sich zu wünschen und zu glauben, dies alles sei Wahrheit.
Geben Sie die Hypothese jetzt ruhig auf und überlassen Sie sie anderen, aber geben Sie zu: Selbst wenn Christus nur das Sujet einer großen Erzählung wäre – die Tatsache, daß diese Erzäh-51
lung von ungefiederten Zweibeinern, die nur wissen, daß sie nichts wissen, erdacht und gewollt werden konnte, wäre ebenso wunderbar (wunderbar geheimnisvoll), wie daß der Sohn eines wirklichen Gottes wahrhaftig Mensch geworden sein soll.
Dieses natürliche und irdische Mysterium würde nicht aufhören, die Herzen der Nichtgläubigen zu verwirren und zu veredeln.
Deswegen bin ich der Meinung, daß eine natürliche Ethik –
respektiert man die tiefe Religiosität, die sie beseelt – sich in ihren zentralen Punkten mit den Prinzipien einer auf den Glauben an die Transzendenz begründeten Ethik treffen kann, zumal diese ja zugeben muß, daß die natürlichen Prinzipien aufgrund eines Heilsprogramms in unsere Herzen gemeißelt sind. Wenn dann, wie es sicher der Fall ist, Randzonen bleiben, die nicht deckungsgleich sind, ist das nichts anderes, als was bei der Begegnung zwischen verschiedenen Religionen geschieht.
Und bei Glaubenskonflikten müssen Caritas und Prudentia überwiegen.
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Die Migrationen,
die Toleranz und das Untolerierbare
1. Die Migrationen des Dritten Jahrtausends
Das Jahr 2000 rückt näher. Ich werde hier nicht diskutieren, ob das neue Jahrtausend nun in der Nacht des 31. Dezembers 1999
beginnt oder erst in der Nacht des 31. Dezembers 2000, wie es Mathematik und Chronologie nahelegen würden. Auf dem
Gebiet der Symbolik sind Mathematik und Chronologie eine Frage der Meinung, und gewiß ist 2000 eine magische Zahl, deren Zauber man sich nicht leicht entziehen kann, nachdem so viele Romane des vergangenen Jahrhunderts die Wunder des Jahres 2000 angekündigt haben.
Andererseits haben wir gelernt, daß auch unter chronologi-schem Blickwinkel die Computer mit ihren Daten am 1. Januar 2000 und nicht am 1. Januar 2001 in die Krise geraten werden.
Unsere Gefühle mögen ungreifbar und verwirrt sein, aber die Computer gehen auch dann nicht fehl, wenn sie fehlgehen: Wenn sie am 1.Januar 2000 fehlgehen, liegen sie richtig.
Für wen ist das Jahr 2000 ein magisches Jahr? Für die christliche Welt natürlich, da es besagt, daß zweitausend Jahre seit der mutmaßlichen Geburt Christi
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