Vier moralische Schriften
nicht, sie sind wie Naturgewalten. Solange man es mit Immigrationen zu tun hat, können die Völker hoffen, die Immigranten in einem Ghetto zu halten, damit sie sich nicht mit den Einheimischen vermischen. Ist es Migration, dann hilft kein Ghetto mehr, und die Vermischung wird unkontrollierbar.
Die Phänomene, die Europa heute noch als Fälle von Immigration zu behandeln versucht, sind indessen schon Fälle von Migration. Die Dritte Welt klopft an die Pforten Europas, und sie kommt herein, auch wenn Europa sie nicht hereinlassen will.
Das Problem ist nicht mehr, zu entscheiden (wie die Politiker zu glauben vorgeben), ob in Paris Schülerinnen mit dem Tschador herumlaufen dürfen oder wie viele Moscheen man in Rom
errichten soll. Das Problem ist, daß Europa im nächsten Jahrtausend – da ich kein Prophet bin, kann ich das Datum nicht präziser angeben – ein vielrassischer oder, wenn man lieber will, ein »farbiger« Kontinent sein wird. Ob uns das paßt oder nicht, spielt dabei keine Rolle: Wenn es uns gefällt, um so besser; wenn nicht, wird es trotzdem so kommen.
Dieses Aufeinandertreffen (oder Zusammenstoßen) verschiedener Kulturen kann blutige Ergebnisse haben, und ich bin überzeugt, daß es sie in gewissem Maße haben wird, sie werden unvermeidlich sein und lange anhalten. Doch die Rassisten müßten eigentlich (theoretisch) eine aussterbende Rasse sein.
Hat es ein römisches Patriziertum gegeben, das nicht ertragen konnte, daß auch die Gallier und die Sarmaten und Juden wie Paulus cives romani werden durften und daß ein Afrikaner auf 58
den Kaiserthron steigen konnte, wie es schließlich geschah?
Nun, dieses Patriziertum haben wir vergessen, es ist von der Geschichte besiegt worden. Die römische Zivilisation war eine Mischzivilisation. Rassisten werden sagen, ebendeswegen sei sie zerfallen, aber das hat immerhin fünfhundert Jahre gedauert-ein Zeitraum, der, wie mir scheint, auch uns noch erlaubt, Projekte für die Zukunft zu machen.
2. Intoleranz
Gewöhnlich gelten Fundamentalismus und Integralismus als eng miteinander verbundene Begriffe und als die beiden evidente-sten Formen von Intoleranz. Wenn ich zwei hervorragende Nachschlagewerke wie den Petit Robert und das Dictionnaire Historique de la Langue Française konsultiere, finde ich unter dem Stichwort »Fundamentalismus« sofort einen Verweis auf den Integralismus. Was zu der Annahme verleitet, daß alle Fundamentalismen integralistisch seien und umgekehrt.
Aber auch wenn das richtig wäre, würde sich daraus nicht ergeben, daß alle, die intolerant sind, Fundamentalisten und Integralisten seien. Zwar haben wir es derzeit mit vielerlei Formen von Fundamentalismus zu tun, und Beispiele für
Integralismus finden sich überall, aber das Problem der Intoleranz liegt tiefer und ist gefährlicher.
Geschichtlich ist »Fundamentalismus« ein hermeneutisches Prinzip, das mit der Auslegung einer heiligen Schrift zu tun hat.
Der moderne westliche Fundamentalismus entstand im 19.
Jahrhundert in protestantischen Kreisen der USA und charakterisiert sich durch die Entscheidung, die Bibel wörtlich auszulegen, besonders im Hinblick auf ihre kosmologischen Vorstellungen, deren Wahrheitsgehalt die zeitgenössische Wissenschaft zu bezweifeln schien. Daher die oft intolerante Ablehnung jeder allegorischen Auslegung und vor allem jeder 59
Form von Erziehung, die das Vertrauen in den biblischen Text zu untergraben versuchte, wie es beim triumphierenden Darwi-nismus der Fall war.
Diese Form der fundamentalistischen Buchstabengläubigkeit ist schon alt. Bereits unter den Kirchenvätern gab es Debatten zwischen den Anhängern des Buchstabens und den Verfechtern einer eher elastischen Hermeneutik, wie sie Augustinus vertrat.
In der modernen Welt konnte der strikte Fundamentalismus jedoch nur protestantisch sein, da man, um Fundamentalist sein zu können, davon ausgehen muß, daß die Wahrheit durch die richtige Auslegung der Bibel zu finden ist. Im Katholizismus wird dagegen die richtige Bibelauslegung durch die Autorität der Kirche gewährleistet, und daher nimmt das Äquivalent des protestantischen Fundamentalismus dort allenfalls die Form des Traditionalismus an. Ich übergehe hier (und überlasse den Experten) die Untersuchung der Natur des muslimischen und des jüdischen Fundamentalismus.
Ist Fundamentalismus zwangsläufig intolerant? Gewiß auf der hermeneutischen Ebene, aber nicht unbedingt auf der politischen. Man kann sich durchaus eine
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