Vier Zeiten - Erinnerungen
kommen den Diplomaten gewählte Politiker in die Quere, indem sie unreife Früchte pflücken. Auch die Stars auf der Genfer Bühne suchten ungeduldig nach innenpolitisch verwendbaren Pluspunkten. »Sie dachten in Reden«, wie mein Vater die strukturelle Verwandtschaft zwischen seinem Chef Stresemann und dem französischen Außenminister Briand schilderte, obwohl er die immense Anstrengung Stresemanns, Deutschland aus der internationalen Isolierung herauszuführen, stets hoch respektierte. Damals hat er wohl den immer unerträglicheren Druck unterschätzt, unter dem Stresemann nicht nur generell im Reichstag, sondern vor allem in der eigenen Partei zu leiden hatte und unter dessen Last der kranke Mann allzu früh zusammenbrach.
Außenpolitik ist und bleibt nun einmal innenpolitisch eingebettet und motiviert. Diplomaten mögen noch so oft Anlaß haben, die parlamentarisch-publizistische Tonart zu Hause als eine dilettantische Behinderung ihrer sachverständigen Arbeit zu empfinden. Schlimm für die Diplomatie und für das Ganze ist es, wenn sie den real existierenden und entscheidenden Einfluß der Innenpolitik auf das Äußere unterschätzt. In Genf spielte
dieser Mangel eine wohl erkennbare, aber noch keine maßgebliche Rolle. Um so schwerer wog er später, als die Innenpolitik in die Hand der Nationalsozialisten geraten war.
Vater, Mutter und Geschwister; Kindheit und Schuljahre in Berlin; jüdische Mitschüler in Wilmersdorf
Mit dem Umzug aus Kopenhagen nach Berlin im Jahr 1927 begannen für das private Leben und zumal für meine eigene Kindheit sechs prägende, glückerfüllte Jahre in der Familie. Wir wohnten in Berlin-Wilmersdorf, Fasanenstraße Ecke Pariser Straße, ziemlich weit weg vom vornehmen Kurfürstendamm, in der Etagenwohnung eines normalen Berliner Mietshauses. Im Nachbarhaus wohnten unter anderem ein Konzertpianist und der sozialdemokratische Politiker Breitscheid.
Der Vater war viel unterwegs, aber als die hochgeachtete Autorität präsent, sobald er am allgemeinen Familienleben teilnahm. Er war von ausgeprägten ethischen Grundsätzen und warmen Empfindungen geleitet. Doch wie es sich für einen ordentlichen Schwaben gehört, quoll ihm der Mund nicht von Gefühlsäußerungen über. Man konnte an ihm beobachten, was die ganze Familie ein wenig kennzeichnete: Wir müssen offenbar erst innere Barrieren überwinden, bis wir zu glauben bereit sind, daß Gefühle bleiben, was sie sind, sobald wir sie vernehmbar aussprechen. Diese Scheu oder Zurückhaltung mag verständlich sein. Aber sie ist auch eine Schwäche; denn die meisten Menschen wollen doch die Wärme und Anteilnahme spüren und hören, statt sie erraten zu müssen. Gleichviel, mein Vater äußerte sich lieber in Kategorien des Verstandes. Hielt er jemandes Betragen für verwerflich, so nannte er ihn nur dumm. Es war ihm ein Greuel, über sich selbst zu reden. Dagegen offenbarte sich seine verborgene Seele in seinen schon erwähnten Aquarellen.
Familienleben 1929 auf dem Balkon unserer Etagenwohnung in Berlin-Wilmersdorf. Meine Mutter mit ihren vier Kindern (von rechts) Carl Friedrich, Adelheid, Heinrich, Richard.
Er war ein guter Mathematiker. Ihm verdanke ich das Interesse für Geschichte und Geographie. Den engagierten Schiller zog er dem sich immer wieder entrückenden Goethe vor, obwohl er die halbe Iphigenie auswendig hersagen konnte. Gern zitierte er zum Beispiel das Lob des Orestes für seinen Freund Pylades: »Mit seltener Kunst fügst Du der Götter Rat und Deine Wünsche klug in eins zusammen.« Ihn erfreute die sprachliche Schönheit ebenso wie die gelungene Beschreibung der diplomatischen Aufgabe.
Mittelpunkt und Herz der Familie war die Mutter. Sie trug die ganze Last der Arbeit. In ihrer Hand lag die alltägliche Erziehung. Sie begleitete die Entfaltung eines jeden ihrer Kinder mit der tiefen Kraft ihrer Liebe. Ihre immer wache selbstlose Teilnahme am Weg und Schicksal des anderen war ihr zur eigenen Existenz geworden, von willensstarker Selbstbeherrschung geprägt und durch keine nervöse Aufgeregtheit verwirrt. Ein lautes Wort habe ich zeitlebens nicht von ihr gehört. Strenge an den Tag zu legen lag ihr nicht und erübrigte sich auch angesichts ihrer viel wirkungsvolleren und unausweichlicheren Konsequenz, die sie den Kompromissen spürbar vorzog.
Natürlich halfen bei der Durchsetzung lästiger Pflichten auch höchst durchschaubare Euphemismen. Das harte »Müssen« wurde in eine gütige Erlaubnis umgedeutet. Wenn
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