Vier Zeiten - Erinnerungen
mehr zu leiden als ich unter der Sorge, mit meinen Wünschen unbemerkt zu bleiben. Am liebsten postierte ich mich an der verkehrsreichsten Stelle der Wohnung, um von dort aus meine Kommentare und Urteilssprüche des Beifalls oder Tadels allseits zu verkünden. Als ich erst sieben Jahre alt war, nannte mich der seherische Carl Friedrich bereits einen werdenden Parlamentsredner. Eine spitzzüngige Freundin meiner Eltern bezeichnete mich gar rundheraus als »Kikeriki« - natürlich ohne dabei an Volksvertreter zu denken.
Nur mit einer Fähigkeit erwarb ich mir ein Monopol in der Familie. Ich war der einzige, der es lernte, anständig berlinerisch zu sprechen. Frühzeitig erzog uns der Älteste dazu, mit den Mitteln der Sprache das Gemeinte möglichst exakt auszudrücken. Das war ein ergiebiges Feld der Beschäftigung, der auch ich mich gern hingab. Einmal wurde beim Mittagessen berichtet, die Frau des Tiefseeforschers Piccard habe ihrem fünften Kind das Leben geschenkt. Dazu fragte ich ganz arglos: »Also hat sie vielleicht fünf Kinder gehabt, die ersten vier umgebracht und dann dem nächsten das Leben geschenkt?«
Im Ernst machte es mir niemand schwer in der Familie. Ich hatte eine glückliche Gabe, mir im Angesicht drohender Niederlagen rechtzeitig ein rettendes Ufer zu suchen und das ganze Haus mit meiner Freude anzustecken, wenn ich eine Beschäftigung gefunden hatte, die mich begeisterte. Wollte ich einen Termin wirklich nicht versäumen, dann entwickelte ich starke Kräfte. Meine Mutter erzählte mir später, ich hätte mich, damals bettlägerig, angesichts eines bevorstehenden Geburtstagsfestes einmal geradezu gesundhypnotisiert. Und die liebevolle Schwester meinte, die Freude am Jüngsten habe die Last mit seiner Erziehung ganz in den Schatten gestellt.
Höhepunkte der Kinderzeit waren die Reisen, die Spiele, die Weihnachtsfeste und die Musik in der Familie. Man reiste zu
einem alpinen Bauern nach Hindelang im Allgäu oder Mösern in Tirol, zu einem Fischer nach Spiekeroog oder einem Pfarrer in die Mark Brandenburg. Im Möserner See gab es angeblich Blutegel. Meinen Respekt vor ihnen nutzte mein Vater, um mir sehr früh das Schwimmen beizubringen. Er nahm mich ein paar Meter mit ins Tiefe, dann ließ er mich auf einmal mit dem Zuruf los, ich solle mich vor dem Gewürm ans Ufer in Sicherheit bringen.
Zu Weihnachten durften wir den Eltern keine Geschenke kaufen -wovon auch? Vielmehr schrieb jedes Kind seine Ferienerlebnisse auf. Zu später Stunde am Heiligabend bildete die Familie einen Kreis, ein Kind nach dem anderen setzte sich in die Mitte auf den Boden und verlas sein Opus magnum, seine »Sommerferien«. Dies wurde zur oft anstrengenden und doch erfüllenden Tradition über die Kindheitsjahre hinaus.
Es gab bestimmte Spielsachen, die nur zur Weihnachtszeit erschienen, darunter eine uralte zauberhafte Puppenstube für die Schwester. Der Älteste erhielt ein kleines Theater mit veritablem Vorhang, Kulissen und mit Figuren, die zum großen Teil von künstlerisch begabten Erwachsenen der Familie angefertigt worden waren. Man klebte die bemalte und ausgeschnittene Figur auf Pappe, befestigte sie unten mit einem Holzklotz, so daß sie stand, konnte sie an Drähten bewegen und auf der Bühne herumspringen lassen. Da führten dann zuweilen meine Eltern am Weihnachtsabend ein bekanntes Märchen auf, zum Beispiel den Gestiefelten Kater, aber mit selbstverfaßten Texten, gespickt mit ziemlich unverblümten Charakterisierungen der Kinder und ihrer Unarten, voller erzieherischer, individuell zugeschnittener Pointen. Es war ein unbeschreiblich köstliches und unübertrefflich wirksames Vergnügen.
Die Sonntagnachmittage standen zumeist im Zeichen des Wettbewerbs zwischen Vorlesen und Spielen. Zur Übung, aber auch zur allseitigen Freude lasen wir klassische Dramen mit verteilten Rollen. Wurden dagegen lyrische Sonette von Platen oder
Rückert zu Gehör gebracht, dann suchte ich nach Fluchtwegen. Ganz anders die Schillerschen Balladen: Sie erregten das jugendliche Gemüt zutiefst, allen voran die Bürgschaft, und daran hat sich mit dem Älterwerden nie etwas geändert.
Ein weiteres Feld war die Hausmusik. Wiederum war die Mutter die Seele des Unternehmens. Sie musizierte und inspirierte uns alle. Ein Klaviertrio der drei jüngeren Kinder entstand. Leider habe ich aber meine Schwester am Klavier und meinen Bruder Heinrich am Cello durch mangelnden Fortschritt an meiner Geige oft behindert. Meine nie erlahmende
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