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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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Musikliebe war größer als mein allzu rasch nachlassender Fleiß. Es dauert eben Jahre, bis man auf der Violine einen wirklich guten Ton hervorbringt. Dabei hatte ich eine für meine Maßstäbe viel zu gute und zugleich ganz zauberhafte Lehrerin, Beatrice Bentz, eine Schweizerin, die das damals in Berlin renommierteste Damenstreichquartett leitete, das Bentz-Quartett. Oft gab es denkwürdige Quartettabende in der Wohnung. Der äußere Rahmen war bescheiden, aber der Kreis der Zuhörer würdig genug; Werner Heisenberg, Ricarda Huch, Hans J. Moser und Ina Seidel zählten dazu. Später, im Schulorchester, wo es zu viele durchschnittliche Geiger wie mich gab, wurde ich dann noch auf Trompete und Posaune umgeschult. Eine Zeitlang wollte ich sogar Sänger werden. Doch am Ende reichten weder das Talent noch die Lerngeduld, um beim so freudig erhofften Ziel zu landen.
    Mit Leidenschaft, mit Ehrgeiz und mit großem Talent beteiligte sich meine Mutter auch an Spielen aller Art. Jahrelang war das chinesische Mah-Jongg-Spiel der Favorit. Ein beliebtes Kartenspiel hieß racing-devil, eine Art Zankpatience, zu mehreren gespielt, bei der es auf Geschwindigkeit ankam. Erst einigen Enkeln gelang es ziemlich spät, die Vorherrschaft der schon hochbetagten, aber nach wie vor siegenden Großmutter zu gefährden. Das populärste Ratespiel war das Vergleichsraten: Eine persönlich oder aus der Geschichte bekannte Gestalt mußte geraten
werden, indem man auszusagen hatte, welche Blume, Sportart, Käsesorte, Malerei oder ähnliches ihr vergleichbar wäre.
    Beim Schreibspiel bevorzugten wir das Wörterzerlegen. Aus den Buchstaben eines Wortes galt es, andere Wörter zu bilden. Zerlegten wir zum Beispiel das Wort Stresemann, dann gab es einen Punkt für einsilbige Wörter wie Rest, zwei Punkte für zweisilbige wie Messe, Sesam oder Narses, schließlich sechs Punkte für dreisilbige wie Manesse. Zu merkwürdigen Ergebnissen führte das Spiel, wenn sich mehrere Generationen daran beteiligten. Einmal spielte unsere Großmama mit und gewann beim Zerlegen des Wortes Veranda. Warum? Weil sie im Gegensatz zu uns noch ein h zur Verfügung hatte. In ihrer Jugendzeit schrieb man das Wort Verandah.
    Schach gehörte auch zum Repertoire. Natürlich war Carl Friedrich der unerreichte Spitzenreiter. Mit seinem um zehn Jahre älteren Lehrer und Freund Werner Heisenberg pflegte er stundenlange Blindpartien im dunklen Schlafzimmer auszufechten.
     
    Später kam das Bridge-Spiel hinzu. Es war und blieb stets Familien-Bridge. Man mußte schon in die Familie hineinheiraten, um mitspielen zu dürfen, natürlich nicht, weil wir so bedeutende Könner gewesen wären, sondern im Grunde, weil alle diese schönen Spiele letzten Endes nicht um ihrer selbst, sondern um der Familie willen gespielt wurden.
    In diesen Jahren hatten wir Kinder das durch nichts zu überbietende Glück, uns ganz in der Familie entfalten zu können. War es Familienstolz, der uns zusammenhielt? Andere mochten es zuweilen so verstehen. Es war aber ein Geflecht von abgekürzter Sprache und Anspielung auf gemeinsam Erlebtes, das anderen schwer zu vermitteln war. Freilich sorgten nicht nur die Vertrautheit mit den Gewohnheiten der Eltern und Geschwister und das wechselseitige Vertrauen, sondern auch die Erfahrung dafür, daß es mir in der Familie interessanter vorkam als anderswo, wenn Verstand und Gemüt auf Entdeckungsreisen gingen.
Immer wieder bin ich mir im Verlauf der Zeit bewußt geworden, daß das Schicksal mir mit der eigenen Familie einen Vorzug von unschätzbarem Wert geschenkt hatte. Sie war und blieb für mich der entscheidende Rückhalt und Segen im Leben. Zugleich bot sie die Grundlage für den anderen lebensbestimmenden Kreis von Menschen, für die Freunde. In manchen Fällen entstand die Beziehung zu ihnen auf dem Weg über familiäre Kooptation.
    Dabei spielte sich alles unter vergleichsweise bescheidenen äußeren Bedingungen ab. Die Wohnung war geräumig genug, aber anspruchslos und ziemlich dunkel. Kaum je drang von der Hof- oder Straßenseite her ein Sonnenstrahl durch die Fenster. Es begann die Zeit der staatlichen Notverordnungen, die sich vor allem im öffentlichen Dienst auswirkten. Butter gab es in der Familie nur zum Sonntagsfrühstück. Als ich mir im Alter von zehn Jahren den Arm brach und eine relativ komplizierte aufwendige Behandlung nötig wurde, brachte dies meine Eltern in die Nähe des Ruins -staatliche Beihilfe sprang nicht ein. Die soziale Not trat einem

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