Viereinhalb Wochen
Ich hörte das Atmen der Ärztin. Ich hörte meinen Atem, ganz laut meinen Atem. Ich spürte, wie sich zuerst mein Bauch verkrampfte, dann meine Beine, mein Herz, alles. Ich spürte den zunehmenden Druck von Tibors Hand in meiner, ich spürte seine Versteinerung. Mein Atem stockte. Stille. Ich suchte das Gesicht der Ärztin und sah, wie es sich, beleuchtet vom hellen Schein ihres Monitors, verfinsterte. Wortlos fuhr sie mit ihrer Sonde auf meinem Bauch auf und ab.
»Mit Ihrem Baby ist leider nicht alles in Ordnung«, sagte sie mit belegter Stimme. Ihre Worte dröhnten geradezu nach einer Ewigkeit lähmender Stille in den Raum hinein, »die Kontur des Nackens ist nicht normal.«
Wieder herrschte Stille. Ich suchte das Gesicht meines Mannes und sah nur die Tränen, die über seine Wangen liefen. Ich fühlte nichts. Ich war versteinert. In mir war mit einem Mal alles dunkel. Es war das Wissen, dass unser Kind krank war. Das war instinktives Wissen, nicht verstandesmäßiges Erkennen. In jenem Moment erkannte ich nichts. Ich sah mich nur selbst auf der Liege, wie in einem Film.
»Entschuldigen Sie mich bitte, ich muss Herrn Professor Chaoui rufen.«
Dann ließ sie uns zurück. Tibor, mich und eine unsichere Assistentin. Ich sah meinen Mann an, er sah mich an. Es gab nichts zu sagen, nichts zu tun, als zu warten. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Ärztin zurück war. Hinter ihr kam der Chef der Praxis, einer der führenden Pränataldiagnostiker Deutschlands. Professor Dr. Rabih Chaoui trug ein sorgenvolles Gesicht und machte keine langen Worte, sondern setzte sich an den Platz seiner Kollegin, nahm die Sonde an sich und vollführte damit die gleichen Bewegungen über meinen Bauch, immer wieder. Die Dunkelheit des Raumes erdrückte mich, ich rang nach Luft. Der sonnige Maitag hinter den Jalousien war unendlich weit weg. »Meine Erdbeere«, schluchzte Tibor, jetzt dicht neben mir. Er weinte und weinte.
»Mit ihrem Baby ist etwas überhaupt nicht in Ordnung«, sagte der Professor und reichte mir ein paar große Zellstofftücher, »könnten Sie sich bitte das Gel abwischen und sich wieder anziehen?«
Mechanisch tat ich, was er wollte. Der Arzt bat uns beide vor seinen Monitor.
»Ihr Kind hat eine schwere Hirnfehlbildung. Sein Kopf ist hinten offen, sein Kleinhirn wuchert dort hinaus, eine sogenannte occipitale Encephalocele.«
Er erzählte noch viel mehr, über offene Rücken und offene Nacken, über nicht funktionierende Kreisläufe und Fehlfunktionen des Gehirns, über geringe Überlebenschancen und irreparable Schädigungen. Sein Monolog perlte an mir ab wie Wasser an einer Glasscheibe. Ich war immer noch gelähmt, bis ich mich etwas sagen hörte.
»Geht es dem Baby gut, und leidet es auch nicht?«
Professor Chaoui hob erstaunt den Blick. Mit dieser Frage hatte er offenbar nicht gerechnet. »Das Baby leidet nicht, das kann ich Ihnen versichern. Das Baby ist in der Fruchtblase gut aufgehoben.« Daraufhin setzte er seinen Monolog fort. Nüchtern, aber, wie mir vorkam, voller Mitgefühl. Sein Urteil war mehr als deutlich: »Familie Bohg, mit diesem Befund kann ich Ihnen keine Hoffnung machen. Es sieht sehr schlecht aus. Das Baby besitzt kaum eine Überlebenschance. Wenn es überhaupt lebend durch den Geburtskanal kommt, hat es wenig Chancen, weiter zu leben.«
Ich war versteinert und seltsam nüchtern zugleich. Ich konnte nichts fühlen, nur Fragen stellen, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Ich hatte keine geordneten Gedanken. Ich hielt Tibors Hand und er hielt meine. Mechanisch streichelte ich meinen Bauch. Tibor saß regungslos neben mir. Ich fühlte mich wie in freiem Fall. Kommt die Hand, die dich auffängt, dachte ich, oder schlägst du auf den Boden und zerspringst dort in tausend Teile?
»Aus meiner Sicht spricht alles für einen Schwangerschaftsabbruch. Andere Frauen in Ihrer Situation entscheiden sich meistens dafür …«
Dieser Satz des Professors riss mich für einen Moment aus meiner Starre. Eine Abtreibung? Mein Kind? Jetzt schon sollte alles vorbei sein mit dem Leben unseres heißersehnten Kindes, jetzt schon, bevor es überhaupt richtig begonnen hatte? Von einer Sekunde auf die andere stieg Trotz in mir auf wie die Lava in einem Vulkan. »Das entscheiden wir, wie es hier weitergeht«, blaffte ich den Arzt an. Der ließ sich keine Irritation anmerken, auch keinen Ärger. Er schien nur noch aufmerksamer zu sein als zuvor, noch einfühlsamer. »Sie müssen erst mal zur Ruhe kommen
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