Viereinhalb Wochen
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Unsere Erdbeere
A m Anfang meiner Schwangerschaft nannten wir unser ungeborenes Kind noch Erdbeere, weil mir in den ersten drei Monaten fast immer so übel war, dass ich nichts anderes vertrug als Obst. Am liebsten aß ich Erdbeeren, und zum Glück war gerade Erdbeerzeit, Mitte Mai, ein richtiger Wonnemonat, ein Tag schöner als der andere.
Die allerersten Erdbeeren aus dem Berliner Umland waren schon auf dem Markt. Ich aber lag im Dunkeln. Es war der 16 . Mai 2011 , und an jenem Tag sollte das Licht für lange Zeit aus meinem Leben und aus dem Leben meines Mannes Tibor verschwinden.
»Das hier sind die Oberschenkelknochen, die vermessen wir jetzt.«
Die Ärztin fuhr mit ihrer Sonde über meinen mit Kontaktgel bestrichenen Unterbauch. Das fühlte sich noch kalt an, weil sie eben erst mit der Untersuchung begonnen hatte, doch mit der Zeit war es bald so warm wie meine Bauchdecke.
»Magen … unauffällig.«
Ich lag auf einer bequemen Liege, vor mir an der Wand hing ein riesiger Flachbildschirm, auf dem ich unsere Erdbeere genau erkennen konnte, weit mehr als überlebensgroß. Neben mir saß mein Mann Tibor. Er hielt meine Hand und starrte wie ich gebannt auf den Bildschirm. Bei meiner Frauenärztin waren wir schon zweimal zur Ultraschalluntersuchung gewesen, aber einen so faszinierenden Blick hatten wir dabei noch nicht auf unser heißersehntes Kind werfen können. Wir waren in einem »Babykino«, wie die hochspezialisierten Praxen für Pränataldiagnostik mit ihren Hightech- 3 -D-Ultraschallgeräten unter werdenden Eltern gern genannt werden.
»Blase … gefüllt, sehr gut.«
Dr. Anke Sarut López sprach mit angenehmer, wenn auch routinemäßig nüchterner Stimme. Das geht vermutlich nicht anders, verbringt die Ärztin doch den ganzen Tag an ihrem Gerät, um auf dem kleineren Monitor im Halbstundenrhythmus Beinchen, Ärmchen, Bäuche und Köpfe von immer neuen Ungeborenen zu untersuchen und die Ergebnisse anzusagen. Neben ihr sitzt eine Assistentin vor einem weiteren Bildschirm und tippt in den Rechner, was die Ärztin feststellt.
»Nieren … unauffällig.«
Ich war glücklich, weil ich meine Erdbeere so genau sehen konnte wie bei keinem Ultraschall zuvor. Und ich hatte Angst. Ich hatte Angst, dass etwas nicht Ordnung sein könnte mit unserem Kind. Ich hatte ein unbestimmbares Gefühl, ein Flattern strömte durch meinen Körper. Vielleicht war meine geliebte Erdbeere während der Untersuchung auch deshalb so ruhelos. Ich hatte vorher noch an meinen Bruder denken müssen, an Justus. Er ist mit dem Down-Syndrom zur Welt gekommen und heute ein wunderbarer junger Mann, den ich über alles liebe. Hatte mich meine Frauenärztin deswegen an die Pränataldiagnostik überwiesen? Oder hatte sie einen anderen Verdacht gehabt?
»Der Magen … ganz schön aktiv, das Kleine.«
Tibor und ich starrten angestrengt auf den Bildschirm, wo zwar eindeutig ein Kind zu sehen, für einen Laien aber kein Unterschied zwischen einem richtig oder falsch wachsenden Embryo zu erkennen war in diesem Labyrinth auf- und niedergehender, schmelzender und sich ununterbrochen blasenförmig verändernder Linien und Formen.
»Das Herz …«
Die Ärztin schob ihre Sonde in rhythmischen Bewegungen über meinen Bauch, drückte mit ihr hierhin, dorthin. Immerzu war ihre Hand in Bewegung, genauso wie das Geschehen auf dem Monitor. Ruhig beobachtete sie den Bildschirm vor sich, klickte hin und wieder auf ihrer Tastatur, zoomte das Bild näher heran oder weiter weg und verschob den Ausschnitt so, wie sie ihn brauchte. Meine Ungeduld wuchs. Gliedmaßen, innere Organe … alles schön und gut, doch ich hatte genug über Ultraschalldiagnostik gelesen und gehört, um zu wissen, dass der kritische Bereich bei dieser Untersuchung im Nacken liegt. Dort können Ärzte zwischen der elften und der vierzehnten Schwangerschaftswoche anhand einer Flüssigkeitsansammlung unter der Nackenhaut sehen, ob die Wahrscheinlichkeit für eine Chromosomenstörung, wie etwa einer Trisomie, oder für einen Herzfehler erhöht ist. Diese Untersuchung heißt auch »Nackentransparenzmessung«, und deswegen waren wir in der Praxis für Pränataldiagnostik in der Friedrichstraße. Dieser Tag war der erste meiner vierzehnten Schwangerschaftswoche.
»Herzfunktion normal.«
Die Ärztin schob ihre Sonde weiter. Bald, dachte ich, würde es so weit sein. Dann herrschte Stille. Ich hörte nur das Summen der Computer, ich hörte das Gleiten der Sonde auf meinem Bauch.
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