Viereinhalb Wochen
und abwägen«, sagt er, »lassen Sie uns weitersprechen, wenn Sie so weit sind. Wir werden Ihnen einen zweiten Termin geben, gleich morgen, hier in der Praxis, zur humangenetischen Beratung. Morgen ist Dienstag, da kommt immer eine … dafür sehr geeignete Psychologin zu uns … für solche Fälle. Wenn Sie wollen, mache ich bei ihr auch einen Termin für Sie.« Das war mein erster Lichtblick seit Stunden, wie mir vorkam, obwohl unser Gespräch nur ein paar Minuten gedauert haben konnte. Psychologische Beratung! Tibor und ich mussten genickt oder ja gesagt haben, denn die Assistentin trug unsere Namen im Computer ein und händigte uns die Termine aus.
Arm in Arm mit meinem Mann taumelte ich aus dem Behandlungsraum. Verheult und zitternd trotteten wir der Assistentin hinterher, vorbei an den aufblickenden Schwangeren und werdenden Vätern, die im Wartezimmer saßen. Wie die Zombies wankten wir durch die Reihen der Glücklichen, dachte ich, Wesen von einem anderen Stern. Ob die mir ansehen, dass ich ein sterbendes Baby in meinem Bauch trage? Mechanisch folgten wir ihr in einen anderen Raum, wo nichts war als eine Liege und ein bequemer Sessel. »Hier können Sie sich erst mal zurückziehen und zu sich kommen«, hörte ich die Frau sagen. Ich sah nur das Schild »Bitte nicht stören« an der Tür, die rote Liege, auf die ich mich fallen ließ, Tibor neben mir. Der Schmerz brach aus mir heraus, sobald wir allein waren. Tränen flossen hemmungslos, beide schluchzten wir und weinten bitterlich. Eine Stunde wie eine ganze Nacht lang. In meiner Verzweiflung fing ich zu beten an. »Hol es oder heil es«, beschwor ich Gott, um im nächsten Moment »das arme Baby, das arme Kleine« zu wimmern, immer wieder. »Das wird nie Fahrrad fahren lernen, das wird nie Ball spielen …« Die Welt war ein Raum mit einer Liege und einem Sessel und einem Bild an der Wand. Das war alles. Wir waren am Ende der Welt angekommen.
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Aufbruch
D er Neujahrsmorgen sollte ein besonderer Tag werden, und das war kein Zufall. Ich bin eine leidenschaftliche Betriebswirtschaftlerin; Zahlen, Ordnungen und Strukturen sind meine Welt, und so wollte ich, dass wir unseren neuen Lebensabschnitt auch an einem besonderen Tag beginnen, am 1 . 1 . 2011 . Ein schönes Datum, wie ich fand.
Zusammen mit meinem Mann saß ich hoch über dem Atlantik in der Maschine von Washington, D. C., nach Frankfurt am Main. Hinter uns lagen zweieinhalb Jahre USA . Reiche, aber auch hektische Jahre voller Arbeit, Stress, Erfahrungen und nochmals Arbeit: Ich hatte für einen deutschen Automobilzulieferer den Einkauf der US -amerikanischen Niederlassung geleitet, Tag und Nacht am Rechner, in Meetings, in Flugzeugen kreuz und quer über den Kontinent unterwegs, erfolgreich bis zum kompletten Zusammenbruch, den ich in drei Monaten ambulanter Therapie auskurieren konnte. All das war Vergangenheit: Den Job hatte ich gekündigt, das Haus war ordnungsgemäß an die Vermieter zurückgegeben, die beiden Autos verkauft, die ans Herz gewachsenen Freunde verabschiedet. Unsere Zukunft sollte in Berlin stattfinden: Tibor wollte nicht zurück in die schwäbische Kleinstadt, aus der er stammte, ich sah für uns keine Möglichkeiten in der Abgeschiedenheit der Oberlausitz, in der meine Familie lebte. Das oberfränkische Städtchen Hof, wo wir vor unserer Zeit in den USA gelebt hatten, war ebenfalls keine Option für uns. Deutschland sollte es aber wieder sein, und zwar dort, wo Aufbruch stattfand, Freiheit, Neubeginn. Bei null wollten wir in der Hauptstadt anfangen, mit nur wenigen Kontakten, ohne Wohnung, ohne Job, jeder von uns mit nichts als mit zwei Koffern ausgestattet. Diese Leichtigkeit und Unabhängigkeit empfanden wir als aufregend. Wir fühlten uns im »Anything goes«-Modus, den wir in den USA so schätzen und lieben gelernt hatten.
Unser Deal war der: Vor zweieinhalb Jahren waren wir wegen meines Jobs in die USA gegangen, und Tibor war mitgekommen. Nun würde ich ihm folgen, auch wenn er nicht in Berlin, sondern anderswo einen guten Job finden sollte. Zuerst wollte er es aber in der Hauptstadt versuchen. Ich wollte mich vor allem erst einmal umsehen, meine beruflichen Möglichkeiten austesten und über einen neuen Anfang nachdenken. Ich war mir nur nicht sicher, ob ich trotz einiger Angebote wieder in die Mühlen eines Konzerns zurück wollte, möglicherweise auf dem Weg in mein nächstes Burnout. Ich hatte keine Lust, wieder in totaler Fremdbestimmung zu landen. Wir
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