Villa Oma
einem Fenster des Hauses blickte ihn das zornrote Gesicht der dicken Dame an. „Dieb“, rief sie noch einmal. Jan lief davon, so schnell er konnte. Nicht weil er Angst vor der dicken Dame hatte, aber weil ihm das Wort „Dieb“, das sie immer wieder hinter ihm her schrie, die Tränen der Wut in die Augen trieb. Er war kein Dieb. Er hatte ein paar Früchte gepflückt, die auf die Straße herüberhingen. Aus Lehrer Pieselangs, seines Vaters Garten, schauten die Johannisbeerbüsche durch den Zaun, und niemand von der Familie Pieselang würde Kinder oder Leute Diebe nennen, die sich von der Straße aus davon eine Handvoll pflückten. Jan war so verletzt und zornig, daß er zu Hause als erstes in den Ziegenstall ging, wohin er sich stets zurückzog, wenn er nachdenken wollte. Er brütete finster vor sich hin. Sie hatte ihn Dieb genannt, ohne daß er einer war. Er mußte ihr klarmachen, daß es nicht stimmte. Aber das konnte er nicht, weil sie ihm nicht glauben würde. Nun gut, dann wollte er jetzt wirklich ein Dieb werden, damit sie ihn nicht umsonst beschimpft hatte.
Am Abend zog er seine Turnschuhe an, mit denen er besonders gut klettern konnte, und holte sich einen Sack aus dem Geräteschuppen. Als er das Haus verlassen wollte, traf er Peter.
„Wo willst du mit dem Sack hin?“
Jan sah den jüngeren Bruder finster an: „Ich habe etwas Wichtiges vor, was ich dir nicht sagen kann.“
Nun war Peters Neugier geweckt, und er quälte Jan so lange, bis er alles aus ihm herausgefragt hatte.
„Nimm mich mit“, flüsterte er aufgeregt.
Jan wollte ab wehren, aber plötzlich kam ihm eine Idee. „Gut, du kannst Schmiere stehen und aufpassen, ob jemand kommt.“
Peter tat vor Begeisterung einen Luftsprung.
„Benimm dich“, herrschte Jan ihn an. „Sei nicht so kindisch, sonst kann ich dich nicht mitnehmen, das ist eine ernste Sache.“
Sie beschlossen, daß Peter vor dem Park auf der Straße warten sollte, während Jan über die Mauer klettern und ein paar Bäume abernten würde. Den Sack mit den Früchten würde er dann über die Mauer werfen, wo Peter ihn auffangen sollte.
„Wenn jemand kommt, pfeifst du auf zwei Fingern: So.“ Jan stieß einen gellenden Pfiff aus, so daß eine Katze, die friedlich auf einer Mauer geschlummert hatte, einen entsetzten Sprung tat.
Peter war tief beeindruckt. Er übte den halben Weg lang, aber er konnte keinen so prächtigen Pfiff zustande bringen. Seine Finger waren schon ganz naß, und alles, was er hervorbrachte, war ein heiseres Quietschen.
„Nimm den Hausschlüssel“, sagte Jan, „auf dem Hausschlüssel geht es leichter.“
Woher sollte Peter mitten auf der Straße einen Hausschlüssel bekommen? Niemand von der Familie trug einen solchen in der Tasche, weil Pieselangs Häuschen nur nachts abgeschlossen wurde. Schließlich einigten sie sich auf einen Käuzchenschrei, und Peter übte den Rest des Weges das „Uhu, Uhu“.
Als sie an Dickmadams Haus ankamen, war die Dämmerung schon weit fortgeschritten. Mit klopfendem Herzen sah Peter, wie Jan, ein paar schadhafte Stellen an der Mauer ausnützend und sich an dem Pflaumenbaum hochziehend, hinüberkletterte und in dem Park verschwand. Dunkel und fast drohend schauten die Bäume und Büsche herüber. Bis auf das leise Plätschern von Wasser war es ganz still, so daß Peter sein eigenes Herz zu hören meinte. Er fühlte sich plötzlich sehr allein und verlassen. Sein Bruder schien in einem fernen, fremden Land zu sein. Wie lange Jan nun schon verschwunden war. Vielleicht gab es in dem Park eine Falle, die ihn festhielt, so lange, bis er verhungerte, oder er war in einen Brunnen gefallen und kam nicht mehr heraus, oder ein großer Hund hatte ihn gebissen, und er war schwer verletzt. Doch davon hätte Peter etwas hören müssen, und Dickmadam hatte ja wohl nur den komischen kleinen Pinscher. Mit dem würde Jan schon fertig werden.
Plötzlich wurde die Stille durch Schritte unterbrochen, die näher kamen, kräftige Männerschritte, die laut und bestimmt klangen.
„Uhu“, rief Peter, „Uhu“, und sein „Uhu“ wurde lauter und angstvoller, als er sah, daß der, der dort kam, der neue Dorfpolizist war, ein großer kräftiger Mann mit einem finsteren Gesicht in einer Uniform mit steifem Kragen und blitzenden Stiefeln. Hinter der Mauer rührte sich nichts. Aber oben im Haus wurde ein Fenster geöffnet, und die Stimme von Dickmadam rief herunter:
„Dort ist der Dieb, Herr Wachtmeister, dort!“ Sie zeigte mit
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