Virus (German Edition)
ein.
4.
Holger Petersen schnarchte. Er
wusste es nicht, und wenn es ihm jemand erzählt hätte, wäre es ihm egal
gewesen, wie ihm fast alles egal war. Zudem schlief er alleine, aber
wahrscheinlich hätte es ihn auch nicht gestört, wenn jemand neben ihm gelegen
hätte, denn Rücksichtnahme gehörte schon lange nicht mehr zu Holgers Tugenden.
Das Telefon klingelte, vermochte
Holger aber höchstens halb zu wecken. Nach dem fünften Klingeln meldete sich
der Anrufbeantworter, doch der Anrufer legte auf. Dann klingelte das Telefon
erneut. Diesmal wachte Holger ganz auf und Wut überkam ihn. Wer wagte es,
seinen Mittagsschlaf zu stören? Wer nahm sich das Recht? Erneut legte der
Anrufer auf, als sich der AB meldete, und versuchte es erneut. Holger würde das
aussitzen müssen.
Er öffnete ein Auge und blickte
auf den digitalen Radiowecker neben seinem Bett. 17:04 Uhr. Als der Anrufer es
um 17:09 zum siebten Mal versuchte, griff Holger entnervt nach dem drahtlosen
Telefon auf seinem Nachttischchen und nahm ab.
Er versuchte seinen Namen zu
nennen und scheiterte kläglich. Ein heiseres, undistinguiertes Grunzen war
alles, was aus seiner Kehle drang. Wann hatte er seine Stimmbänder das letzte
Mal benutzt? Gestern? Vorgestern? Er wusste es nicht mehr.
„Holger, bist du das?” fragte der
Anrufer. Es war Lars Metzger, Holgers ältester und inzwischen einziger Freund.
Lars war bei der Kripo.
„Müsste ich für in den Spiegel
gucken, keine Ahnung.” Holgers Stimme war ein kleines bisschen besser. Noch
immer heiser und eingerostet, aber mit Wohlwollen und Konzentration durchaus
verstehbar.
„Hör auf mit dem Scheiß und beweg
deinen Arsch zum Kongresszentrum. Hier hat der Blitz eingeschlagen.”
„Na und?”
„Während eines Vortrags, mann.
Zweihundert Menschen waren in dem Saal und es gibt einen Toten. Die Umstände
sind mehr als dubios.”
„Und was habe ich damit zu tun?” Holger
versuchte, sich seine eingerosteten Stimmbänder zunutze zu machen und versoffen
zu klingen. Vielleicht wollten sie ihn nicht da haben, wenn er zu unrasiert
klang.
„Du bist in einer halben Stunde
hier, das hast du damit zu tun!” Damit legte Lars auf. Er war der Einzige, der
sich traute, so mit Holger zu sprechen. Erstens waren die beiden seit
Kindergartenzeiten miteinander befreundet und zweitens konnte Holger es sich
nicht leisten, ihn auch noch als Freund zu verlieren. Dann wäre niemand mehr da
gewesen.
Holger legte das Telefon auf das
Nachttischchen zurück und steckte sich eine Zigarette an. Es gab also einen
Toten. Die Polizei brauchte ihn mal wieder. Natürlich. Und wenn die Polizei
einen brauchte, dann musste man springen. Klar. Konnten sie denn keinen anderen
fragen? Natürlich nicht. In diesem blöden Kaff gab es keinen anderen. Wer war
überhaupt auf die bescheuerte Idee gekommen, in diesem winzigen Ostseedorf
einen G8-Gipfel abzuhalten? Manchen Menschen war wirklich nicht zu helfen.
Mit einem lauten Missfallensgrunz
stand Holger auf und ging unter die Dusche. Jede mögliche Abstellfläche in seiner
eigentlich schönen, hellen und großzügig geschnittenen Drei-Zimmer-Wohnung war
vollgestellt mit leeren Bierflaschen und vollen Aschenbechern. Er ging nicht
mehr viel vor die Tür, doch in Ordnung und Sauberkeit konnte er ebenfalls
keinen übergeordneten Sinn ausmachen. Eigentlich war sein Leben – oder das, was
man gemeinhin als Leben bezeichnete – längst vorbei. Daran änderte auch die Tatsache
nichts, dass er erst 37 Jahre alt war.
–––––
Holger ging zu Fuß. Er besaß zwar
ein Auto, aber das nutzte er so gut wie nie. In diesem Kaff brauchte man kein
Auto. Das Kongresszentrum lag keine zehn Minuten von seiner Wohnung entfernt.
Holger war einer der wenigen
Anwohner, die innerhalb des eingezäunten Bereichs wohnten. Angrenzend an das
moderne Luxusresort mit seinem Golfplatz gab es eine kleine Siedlung
unmittelbar an der Küste, die die Investoren der Anlage am liebsten dem
Erdboden gleichgemacht hätten, wogegen sich die Anwohner aber erfolgreich
gewehrt hatten. Die Siedlung war ursprünglich einmal ein winziges Fischerdorf
gewesen, doch nachdem die Fischerei in der Ostsee mehr und mehr zurück gegangen
war und die großen Trawler den kleinen Fischern den Fang streitig gemacht
hatten, war die Siedlung zu einer guten, modernen Wohngegend in fantastischer
Lage umfunktioniert worden. Der Zaun hatte aufgrund der Nähe der Siedlung zum
Hotel diese mit einschließen müssen.
Als das Resort gebaut
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