Virus
ihrer Assistentenzeit als Kinderärztin hatte sie sich beworben und war für zunächst zwei Jahre eingestellt worden als Mitarbeiterin der Abteilung Seuchenerkennungsdienst, kurz EIS (Epidemiology Intelligence Service) genannt. Sie war also sozusagen ein medizinischer Detektiv. Erst vor knapp vier Wochen, kurz vor Weihnachten, hatte sie ihren Einführungskurs abgeschlossen, der sie auf ihren neuen Tätigkeitsbereich vorbereiten sollte. Der Kurs hatte sich mit öffentlicher Gesundheitsfürsorge, Statistikauswertung und Epidemiologie befaßt – der bevölkerungsbezogenen Erforschung und Kontrolle von Gesundheit und Krankheit.
Ein ironisches Lächeln huschte über Marissas Gesicht, als sie in ihren dunkelblauen Mantel schlüpfte. Na gut, den Einführungskurs hatte sie absolviert, aber – wie es schon so oft der Fall gewesen war im Laufe ihrer ärztlichen Ausbildung – sie fühlte sich völlig unzulänglich vorbereitet auf die Bewältigung eines echten Notfalls. Es würde sich eine gewaltige Kluft auftun zwischen Theorie und Praxis, wenn sie erst einmal ihren ersten Auftrag erhielte. Das Erkennen einer bestimmten Krankheit im Rahmen einer Fallstudie, bei der sich die Einzelkomponenten wie Ursache, Übertragungswege und Trägereigenschaften bestimmen ließen, war meilenweit entfernt von der Entscheidung darüber, was beim tatsächlichen Ausbruch einer wirklichen Epidemie unter lebenden Menschen unternommen werden müsse. Dann ginge es eben nicht mehr um ein vages »falls«, sondern darum, was »hier und jetzt« geschehen müsse.
Marissa nahm ihre Aktentasche, löschte das Licht und hastete zurück in die Vorhalle mit den Aufzügen. Sie hatte den Einführungskurs zusammen mit weiteren achtundvierzig Männern und Frauen belegt, von denen die meisten wie sie selbst ausgebildete Mediziner waren. Einige von ihnen waren Mikrobiologen, einige Pflegerinnen, einer Zahnarzt. Sie fragte sich, ob nicht vielleicht alle mit einer ähnlichen Selbstvertrauenskrise zu kämpfen hätten wie sie. Unter Ärzten unterhielt man sich im allgemeinen nicht über solche Dinge – das widersprach dem »Image«.
Nach dem Abschluß ihrer Ausbildung war sie der Abteilung für Virusforschung, Unterabteilung Sondererreger, zugeteilt worden – und gerade diese hatte auf der ersten Stelle ihrer Wunschliste der Tätigkeitsbereiche gestanden. Man hatte ihrem Wunsch entsprochen, denn sie hatte das beste Ergebnis des gesamten Kurses gehabt. Obwohl Marissa kaum über Erfahrungen in der Virusforschung verfügte – weswegen sie auch viel Zeit in der Bibliothek verbrachte –, hatte sie darum gebeten, nach Möglichkeit dieser Abteilung zugeteilt zu werden. Denn infolge des Anwachsens der AIDS-Bedrohung war die Virusforschung plötzlich an die erste Stelle der Forschungsbereiche getreten, während sie bisher hinter der Bakteriologie die zweite Geige gespielt hatte. Die Virologie war jetzt das Gebiet, wo am meisten los war – und Marissa wollte kräftig dabei mitmischen.
Vor den Aufzügen grüßte Marissa das kleine Grüppchen der Leute, die dort warteten. Einige von ihnen kannte sie, die meisten gehörten zur Abteilung für Virusforschung, deren Verwaltungszentrale auf demselben Stockwerk lag. Die anderen waren ihr unbekannt, aber alle erwiderten ihren Gruß. Wenn sie auch Probleme wegen des Vertrauens in ihre eigenen ärztlichen Fähigkeiten hatte – sie durfte sich hier jedenfalls akzeptiert fühlen.
In der Vorhalle mußte Marissa sich anstellen, um sich in die Ausgangsliste einzutragen, was jeweils ab fünf Uhr erforderlich war; dann eilte sie zum Parkplatz. Obwohl esWinter war, ließ sich das nicht vergleichen mit dem, was sie aus den letzten vier Jahren in Boston gewohnt war, und sie dachte gar nicht daran, ihren Mantel zuzuknöpfen. Ihr sportlicher roter Honda Prelude stand noch genauso da wie am Morgen: staubig, dreckig, vernachlässigt. Er trug immer noch die Nummernschilder von Massachusetts; die Ummeldung war eines der vielen Vorhaben, zu denen Marissa bisher aus Zeitmangel noch nicht gekommen war.
Es war nur eine kurze Strecke vom Seuchenkontrollzentrum bis zu dem kleinen Haus, das Marissa gemietet hatte. Das Gelände rund um das Center wurde beherrscht von der Emory-Universität, die in den frühen vierziger Jahren das Gelände dem Seuchenkontrollzentrum überlassen hatte. Eine Anzahl freundlicher Wohnsiedlungen umgab das eigentliche Universitätsgelände, deren Charakter die ganze Palette von »unterer Mittelklasse« bis »bemerkenswert
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