Visby: Roman (German Edition)
habe längst keine Zweifel mehr. Ich gehe noch näher heran, bis ich ihr Gesicht deutlich sehe. Es ist voller Falten, die im Licht der Petroleumlampe Schatten werfen. Ihre Augen erinnern an Dhanavati, ihre glatt zurückgekämmten Haare haben eine ähnliche Farbe, durchsetzt von Grau. Sie ist ähnlich groß. Sonst finde ich nichts von ihrer Tochter. Nicht in ihrer harten Stimme, nicht in ihrem Mund, der aussieht, als hätte sie vor Jahren das Lächeln verlernt, nicht in ihren steifen und schweren Bewegungen. Dhanavati bewegt sich leichtfüßig, als wäre es eine Freude, zu gehen, zu gestikulieren, über Pfützen zu springen. Wenn sie einen anschaut, ist ihr Blick nicht immer freundlich, aber hellwach. Es stimmt, ich habe sie einmal gehasst, aber nur als ein Phantom aus Adrians Vergangenheit. Als sie in Westerkoog vor mir stand und sich in einen realen Menschen verwandelte, war das schnell vorbei. Und selbst wenn der Hass noch lebendig wäre: Dies hier hätte ich ihr nie gewünscht.
»Ich verstehe es nicht«, höre ich mich sagen, entgegen allen Vorsätzen für dieses Treffen. »Es ist mir wirklich unbegreiflich. Ich meine nicht, dass Sie von den Klippen gesprungen sind. Oder dass Sie danach für tot gelten wollten – dass Sie es schwer fanden, mit dem fertig zu werden, was Sie unabsichtlich angerichtet hatten. Das kann ich mir alles erklären. Irgendwie. Aber dass Sie der eigenen erwachsenen Tochter ins Gesicht sehen und so tun, als wären Sie ihr nie begegnet, als wüssten Sie nicht mal genau, wer sie ist – und sie weggehen lassen, dreiundzwanzig Jahre lang haben Sie sie nicht gesehen, und dann, als sie vor Ihnen steht, reden Sie wie mit einer Fremden mit ihr und lassen sie einfach wieder gehen … «
Ihr Blick ist starr geworden und ihr Mund schlaff, sie sieht aus, als könnte sie sich nie wieder bewegen. Aber dann wendet sie sich mit einem Ruck ab, stützt sich kurz gegen den Türrahmen und verschwindet im Haus. Die Tür fällt zu.
Ich will ihr folgen. Eglund blockiert den Zugang zur Veranda.
»Sie müssen jetzt gehen«, sagt er auf Englisch. »Ich weiß nicht, was Sie zur ihr gesagt haben … «
Nichts, was sie nicht weiß! denke ich. Englische Worte fallen mir nicht ein. Ich will mich an Eglund vorbeidrängen. Er fasst mich am Arm.
»Es hat keinen Sinn. Adrian ist nicht mehr hier. Er ist vor zwei Wochen abgereist. Gisela weiß nicht, wo er ist.«
Ich sitze im Mietwagen, im Dunkeln. Sehr lange. Als ich schließlich den Motor anlasse und losfahre, sind meine Arme und Hände so schwach, dass ich es kaum schaffe, das Auto auf dem Waldweg zu halten. Schlaglöcher werden vor meinen Augen zu Kratern. Ein Kaninchen rennt ins Schweinwerferlicht, ich bremse, doch mein Fuß rutscht ab. Zum Glück ist das Kaninchen schneller.
Am Ortseingang von Ljugarn fahre ich auf den Vorplatz der Tankstelle und stelle den Motor aus. Ich verschränke die Arme auf dem Lenkrad und legte den Kopf darauf. Nachdenken möchte ich, nachdenken, dies kann doch nicht das Ende sein, ich bin so weit gereist, ich hatte in allem richtig geraten, und jetzt ist er einfach nicht mehr hier?
Two weeks ago. Vor zwei Wochen. Was habe ich vor zwei Wochen gemacht? Wann war Dhanavati bei uns? Wieso ist sie nicht früher gekommen? Wieso hat sie uns nicht gleich besucht, sobald sie aus Värmland zurück war, wieso ist sie erst nach Århus gefahren, hätte Maria denn nicht warten können? Wieso hat sie nicht von Schweden aus angerufen? Wieso habe ich – ich – ich – drei Monate lang einfach zu Hause gesessen und nichts unternommen? Nur ein paar zaghafte Fragen gestellt, Nilsson nach Ljugarn geschickt und gewartet und gewartet? Wieso habe ich nicht viel früher angefangen nachzudenken? Den Zettel mit seiner Frage – Aber wo wohnt sie jetzt? – hatte ich längst gefunden. Dhanavatis Bericht im Internet hatte ich längst gelesen. Wieso habe ich nicht ein einziges Mal kühl überlegt, welches Detail aus diesem Bericht Adrian so aufgeschreckt haben konnte, dass er zwei Tage später verreist ist?
Hätte ich das schon erkennen können? Bevor ich von Dhanavati erfahren habe, was Adrian ihr über das Waldhaus erzählt hat?
Ich weiß es nicht. Mein Kopf ist zu müde. Die Ereignisse lassen sich nicht ordnen. Und spielt es denn eine Rolle? Two weeks ago. Vor zwei Wochen hat er Ljugarn verlassen.
Aber er ist nicht nach Hause gekommen.
Ich richte mich auf, öffne das Fenster und atme die kalte Luft tief ein. Nach einer Weile lasse ich den Motor an und fahre
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