Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)

Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition)

Titel: Die Legende der Roten Sonne: Stadt der Verlorenen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Charan Newton
Vom Netzwerk:
PROLOG
    H öher als ein Soldat ragte sie auf, die Spinne, die sich in die tiefe Nacht begab. Dicke Fäden spann sie, um sich von Wand zu Wand zu schwingen und um die unwahrscheinlichsten Ecken zu kommen.
    Mit zwei, dann vier Beinen erkletterte sie eine Mauer, mit sechs, dann acht Beinen erreichte sie die Treppe eines Wachturms und schließlich eine schöne Aussicht über den Dächern von Villiren. Während die Brandung von ferne donnerte, atmete das Geschöpf aus.
    Mit klackenden Schuhen ging unten ein Paar entlang, der Größe nach zum Schlachten geeignet. Nein, die nicht, es ist noch zu früh, dachte die Spinne jedoch, ließ sich vom Geländer einer Steintreppe ab, hing in der Luft und verschaffte sich so eine neue Perspektive. Schnee wehte vom Himmel – erst in einzelnen Flocken, dann dichter – und ließ die Stimmung in den Straßen noch lastender erscheinen.
    In diesem Halbdunkel wartete die Spinne.
    Wenn Leute durch Straßen und Gassen gingen, witterte sie die chemischen Veränderungen in der Luft und spürte die winzigen Erschütterungen, die ihr verrieten, wo sie sich befanden: Sie konnten sich nicht verbergen. Vorsichtig schob sich die Spinne auf einen Vorsprung aus solidem, noch nicht so altem Mauerwerk. Wieder spann sie einen Faden, ließ sich langsam daran herab und schwebte wie eine Tänzerin im Wind. Straßen erstreckten sich gitterartig vor ihr durch die eintönig bebaute Ebene. Im Laufe der letzten Stunde hatte die Zahl derer, die draußen unterwegs war, stark abgenommen; nur noch eine Handvoll Menschen trotzte der enormen Kälte.
    Deren Angst konnte die Spinne beinahe spüren.
    Einen von ihnen galt es zu wählen – nicht zu jung sollte er sein, und nicht zu alt. Als das Geschöpf sich behutsam auf den Boden herabließ, zerfiel die Welt in Winkel und Straßenfluchten.
    Auf der Suche nach Frischfleisch krabbelte die Spinne ins Dunkle.
    Was für ein grässlicher Schrei, dachte Haust. Anders als bei einer Banshee war er so plötzlich verstummt, als wäre da wem die Kehle durchgeschnitten worden. Hausts Sinne waren nun blitzwach, und seine Angst nahm gewaltig zu. Am Nachthimmel kreisende Pterodetten flatterten und krächzten aufgebracht.
    Das ist wirklich das Letzte, was ich mir auf Nachtwache wünsche, überlegte er. Eigentlich hätte er längst im Bett liegen, besser noch im Offizierskasino sitzen und billigen Wodka süffeln sollen, doch sein blöder Kommandeur hatte unsinnige Vorstellungen von öffentlicher Sicherheit. Die Straßen sollten patrouilliert, der Eindruck von Kontrolle und Autorität gewahrt, die Bevölkerung beruhigt und ihre Skepsis der Armee gegenüber verringert werden. Im Moment war es Haust egal, dass er Nachtgardist war, also unter besonderem magischem Schutz stand, denn er fror sich den Ast ab, und daran änderte alle Magie nichts.
    Fackeln ließen die fallenden Flocken wie Funken eines Schmieds erscheinen – ein schöner Anblick eigentlich, doch es herrschte Eiszeit, und alle Welt hatte die Nase seit Langem gestrichen voll von dem ewigen Schnee.
    Nur wenige Menschen waren um diese Zeit noch unterwegs. Zuletzt war ihm ein Mann mit Kapuze begegnet, der durch die Gassen eilte und gewissenhaft in den Zähnen stocherte. Die sture Regelmäßigkeit und nackte Modernität der Gebäude ringsum ließen auffälliges Verhalten ins Kraut schießen. Nichts als langweilige Labyrinthe! Ging man um eine Ecke, glaubte man dort zu sein, von wo man eben gekommen war, und fürchtete bald, nie mehr aus diesem Irrgarten zu finden. Die Bauten hier waren ohne ein Bedürfnis nach Schönheit errichtet worden, und Haust war froh, woanders zu wohnen.
    Seit einigen Monaten erst war er bei der Nachtgarde, hielt sich aber bereits für einen Helden. Seiner Fähigkeiten als Bogenschütze wegen war er von den Dritten Dragonern, der Wolfsbrigade, in die Elitetruppe des Reichs übernommen und quer durch den Boreal-Archipel in eine Stadt gesandt worden, die zum Krieg rüstete. Groß, blond und gut aussehend, hielt er sich für unbesiegbar – und als Nachtgardist war er das ja beinahe. Der Kommandeur, ein Albino, hatte gerade ihn in die Elitetruppe berufen. Diese Beförderung war ein gewaltiger Karriereschritt und ließ ihn zu den besten Soldaten gehören. Nachts träumte er von Stimmen, die ihm zuflüsterten, er sei erwählt. Über solche Tatsachen kann man nicht hinweggehen, fand er.
    Er schlang sich den schwarzen Umhang fester um den Leib und stapfte erkundend durch die Gassen. Die Altstadt lag gut anderthalb

Weitere Kostenlose Bücher