Visby: Roman (German Edition)
nicht.«
»Nein. Was verliert man da? Wer ist man denn, wenn man sich selbst verloren hat?« Doch während ich spreche, während er zuhört und dann offenbar über eine Antwort nachdenkt, sehe ich mich wieder auf der Mole stehen. Und in die Dunkelheit schauen, und der anderen, der eigentlichen Annika zuschauen, wie sie ihrem anderen, richtigen Leben nachgeht. Mit einem Ruck schiebe ich meinen Stuhl zurück und stehe auf. »Lassen Sie nur. Es spielt keine Rolle. Ich muss jetzt fahren.«
Ich gehe in den Vorraum hinaus. Meine Reisetasche steht vor dem Empfangspult. Carl taucht aus dem Gang zur Küche auf, ich bezahle, Carl ergreift meine Hand mit beiden Händen und küsst mich auf die Wange. »Alles Gute, Annika.«
Eglund ist mir in den Vorraum gefolgt. Als ich nach der Reisetasche greife, kommt er mir zuvor und trägt sie zur Tür. Der Regen hat aufgehört, die Wolkendecke lichtet sich. Wir gehen schweigend zu dem kleinen Parkplatz neben dem Hotel. Ich entriegele die Wagentüren, Eglund öffnet den Kofferraum und stellt die Tasche hinein.
Dann dreht er sich zu mir um. »Ich werde Dhanavati nicht sagen, dass ihre Mutter noch lebt. Ich werde ihr nicht schreiben und nicht zu ihr fahren. Gisela wird sich sowieso nicht melden. Aber was ist mit Ihnen, Annika?«
»Das wissen Sie doch. Wahrscheinlich werde ich sie gar nicht wiedersehen. Aber wenn wir uns sehen, werde ich es für mich behalten. Soll ich … « Das englische Wort für schwören fällt mir nicht ein, also hebe ich nur die rechte Hand.
Er lächelt flüchtig. »Und Adrian?«
Ich wende mich ab. »Er belügt sie doch seit Jahren.«
Die Wolken sind nach Osten davongeweht worden, mein Flugzeug startet in einen blassblauen Himmel. Ein oder zwei Minuten lang sehe ich Gotland unter mir. Fahles Land. Wälder. Visby mit seinen roten Ziegeldächern und alten silbergrauen Mauern. Die Klippen, von denen Gisela gesprungen ist, umsäumt von feiner weißer Brandung.
So schön. Ich müsste bedrückt sein, schließlich habe ich nichts erfahren, nichts, was ich nicht schon erraten hatte. Diese Reise von nur drei Tagen hat mich über achthundert Euro gekostet, und ich trage nichts davon als ein kleines bisschen Gewissheit.
Trotzdem fühle ich mich wie befreit. Vielleicht weil ich einfach genug gefragt habe. All meine Fragen habe ich hier abgeladen. Dort unten liegen sie nun, irgendwo auf den Wiesen, zwischen den Bäumen, der Wind treibt sie umher, manche bleiben an abgestorbenen Farnwedeln hängen und zerfallen gemeinsam mit den Pflanzen zu Humus und einer Mixtur von Düften, andere wehen aufs Meer hinaus und versinken im Wasser.
All meine Fragen. Nur eine ist übriggeblieben. Eglund hat sie gestellt. Ich saß schon angeschnallt hinter dem Steuer und wollte eben den Motor anlassen, da klopfte es am Seitenfenster, ich öffnete, und Eglund beugte sich zu mir herab, eine Hand auf dem Autodach.
»Wie ist es mit Ihnen, Annika?«
»Was?«
»Ihre Tochter würde ihn nicht wegschicken, wenn er wieder nach Hause käme. Aber wie ist es mit Ihnen?«
Und ich musste nachdenken. Dabei war ich noch in der Nacht so sicher gewesen, dass es das Wichtigste auf der Welt war: Adrian wiederzufinden. »Ich weiß es nicht. Ich weiß das erst, wenn er da ist. Warum?«
»Ich kenne eine Menge Leute. In vielen Ländern. Ich könnte herumfragen. Das heißt nicht, dass wir ihn sicher finden. Aber es ist eine Möglichkeit.«
Ich sah ihn an. Er meinte es ernst. »Er könnte überall sein!«
»Sicherlich nicht überall.« Er sprach ganz sachlich, ein Geschäftsmann, der ein Problem lösen wollte. »Sie könnten mir eine Liste der Orte schicken, an denen er einmal gelebt hat.« Er lächelte. »An denen er sich selbst verloren haben könnte. Schicken Sie mir eine E-Mail.« Er richtete sich auf und nahm die Hand vom Autodach. »Wenn Sie sicher sind, dass Sie es wollen.«
Funkelndes Meer. Das Flugzeug schwenkt nach rechts, unter mir liegt nur noch Wasser. Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Mein Sitznachbar unterhält sich über den Mittelgang hinweg mit zwei älteren Frauen.
Seit fünfzehn Jahren bin ich nicht mehr so weit gereist. Adrian habe ich nicht gefunden.
Er könnte überall auf der Welt sein.
Im Augenblick ist es mir egal.
Nachweis der zitierten Liedtexte
Alle zitierten Liedtexte stammen aus Songs von der LP »Golden Hour of Melanie«, Pye Records Ltd., 1977
Die Zwischenüberschriften sind folgenden Songs entnommen:
Ruby Tuesday – Mick Jagger/Keith Richards 1967
I Really
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