Vision - das Zeichen der Liebenden
Augen mit dunklem Lidschatten zu schminken.
Alex ließ es widerstandslos über sich ergehen. Er war unruhig und aufgeregt und wusste selbst nicht, woher dieses Gefühl auf einmal kam. Die Partys im Molino Negro waren legendär. Einmal im Jahr engagierten die jungen Besitzer der alten Mühle verschiedene Rock- und Hip-Hop-Bands und richteten auf dem verfallenen Gelände verschiedene Partyräume ein, die sie den jeweiligen Musikrichtungen entsprechend gestalteten. Die Gäste ließen sich die ganze Nacht hindurch in der Dunkelheit von Bühne zu Bühne treiben und von Innenhof zu Innenhof, sie tanzten wie in Trance und betranken sich. Das hatte Alex zumindest gehört, denn bisher hatte er noch nie die Gelegenheit gehabt, eine dieser sagenumwobenen Partys zu besuchen.
»Komme ich da überhaupt rein?«, fragte er.
Irenes lange Fingernägel gruben sich in seine Wange, während sie versuchte, die Hand ruhig zu halten, um Wimperntusche aufzutragen.
»Soll das ein Witz sein?«, knurrte Erik. »Du bist mit mir unterwegs.«
Ja, das war tatsächlich eine blöde Frage gewesen. Schließlich war er mit Erik befreundet und es gab keine Party, auf die Erik nicht kam, wenn er wollte. Erik war selbstsicher, er war intelligent und reich. Und als wäre das noch nicht genug, sah er auch noch unverschämt gut aus. Erik ließ sich nicht so schnell von irgendetwas abhalten.
Sie verließen die Hauptstraße und bogen in ein verlassenes Gewerbegebiet ein, die beste Abkürzung, wenn man zum Strand wollte. Die Lichtpegel der Scheinwerfer ertasteten die eckigen Umrisse der alten Fabriken, sie hoben sie kurz aus der Dunkelheit heraus, ehe sie wieder darin verschwanden. Ohne zu zögern, steuerte Erik durch das Gewirr von Straßen, alle menschenleer und ohne jeden Charme. Er schien genau zu wissen, welchen Weg er nehmen musste.
Als Irene mit Alex’ Augen fertig war, kramte sie wieder in ihrem geblümten Schminktäschchen. Alex warf einen Blick auf das Sammelsurium an Stiften und Döschen, die Irene offenbar immer dabeihatte. Das Täschchen verströmte einen unangenehmen Geruch nach Puder und billigem Parfüm.
Gleich darauf spürte er auf der rechten Wange das Kitzeln eines weichen Pinsels, der in gleichmäßigen Bewegungen vom äußeren Rand des Wangenknochens bis zu den Mundwinkeln wanderte. Wieder und wieder. Er versuchte, sich zu entspannen und an nichts anderes zu denken, schloss die Augen und genoss die sanfte Berührung. Er wurde gerade von einem Mädchen geschminkt, einem Mädchen, das gar nicht übel war, nach den wenigen Blicken zu schließen, die er bisher auf sein Gesicht erhascht hatte. Und das außerdem auch noch an ihm interessiert und nicht gerade zurückhaltend zu sein schien. Und zusätzlich würde er sich in wenigen Minuten auch noch mit eigenen Augen davon überzeugen können, wie eine der legendären Partys im Molino Negro aussah… Es war klar: Vor ihm lag eine besondere Nacht.
Da fiel ihm plötzlich Laura ein.
»Ich hätte meiner Schwester Bescheid sagen müssen.« Er suchte Eriks Blick in den dunklen Schemen des Rückspiegels. »Ich hab mich nicht mal von ihr verabschiedet.«
»Sie weiß Bescheid«, erwiderte Erik, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. »Ich hab ihr eine SMS geschickt, dass ich dich heute Abend entführt habe. Sie hat schon geantwortet… Hier, lies selbst.«
Alex griff nach dem Handy, das Erik ihm hinhielt, und scrollte sich durch das Menü. Super, hatte Laura geschrieben. Pass auf ihn auf . Entnervt warf Alex das Handy auf den Sitz neben sich. Seit wann verschworen sich seine kleine Schwester und sein bester Freund, um hinter seinem Rücken sein Leben zu organisieren?
»Jetzt musst du einen Moment ganz stillhalten«, flüsterte Irene. Ihre Stimme klang weich und verführerisch. »Ich male dir nämlich gleich die Lippen blutrot an. Auf einer Emo-Party muss man die Farbe seines Herzens auf den Lippen tragen. Das gilt übrigens auch für dich, Erik. Wenn wir da sind, soll Marta das nachholen.«
»Marta wird gar nichts nachholen, stimmt’s, Süße?«
Statt einer Antwort kicherte Marta aufgeregt. Alex schnalzte so laut mit der Zunge, dass Erik es nicht überhören konnte. Die Art und Weise, wie sein Freund Martas Bewunderung ausnutzte, hatte ihm noch nie gefallen. Zugegeben, Marta war ein bisschen nervig und tratschte gern. Aber dass Erik sie so behandelte, hatte sie nicht verdient. Marta hätte alles für Erik getan und er wusste das genau und bestärkte sie auch noch darin. Und obwohl er
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