0935 - Tochter der Dunkelheit
Über ihr erstreckte sich ein glühender Himmel ohne Sonne oder Regenwolken. Doch konnte sie von hier aus Tausende von Sternen sehen. Ständig wehte ein trockener Wind und sorgte dafür, dass es niemals abkühlte. Kassandra wusste, woran das lag. Ihr Lebensbereich zählte zu den unglaublichsten Orten des Multiversums. Die Hölle war größtenteils instabil und damit ständigen Veränderungen unterworfen. Richtungen wie bei einem Kompass existierten kaum, und Zeit und Raum spielten an diesem Ort nur eine untergeordnete Rolle oder waren in manchen Bereichen ohne jegliche Bedeutung. Zeit existierte, sie verstrich auch, aber sie war für die hier lebenden Wesen unwichtig, da sie von Natur aus extrem langlebig waren. Das, was die Menschen Hölle nannten, war somit eine in sich geschlossene, außergewöhnlich komplexe Welt. Sie war teilweise variabel und veränderte ständig ihr Aussehen und ihre Struktur. Wo heute noch Wege existierten und Pflanzen wuchsen, konnte morgen das absolute Nichts sein, und übermorgen konnte dort sogar ein neuer Berg emporwachsen.
All dies hatte Kassandra schon mehrmals erlebt, und trotzdem konnte sie sich keinen anderen Ort vorstellen, an dem sie dauerhaft leben wollte, als die Hölle.
Die war eine real existierende andere Welt, nur einen winzigen Schritt von der Erde entfernt und doch nur für Eingeweihte durch Weltentore oder mittels Magie zu erreichen. Der trockene, heiße Wind stammte vom ersten Kreis der Hölle, der das Miniuniversum wie eine Art Burggraben umschloss und wo es so heiß war, dass sogar Blei schmolz. Den siebten Kreis der Hölle, quasi ihr Herz und Gehirn, bildete der Bereich, in dem sich Stygia, KAISER LUZIFERs Stellvertreterin und der Fürst der Finsternis aufhielten.
Und noch etwas brachte der heiße Wind wie ein ständiges, kaum hörbares Hintergrundgeräusch mit sich: die Schmerzensschreie der Gefangenen, die in den Tümpeln der brennenden Seelen ihre schier endlose Strafe verbüßten. Am lautesten riefen die Gefangenen der Peinteufel im Bezirk Seelenhalde Mitte.
Aber die Feuertümpel interessierten das Mädchen überhaupt nicht. Den Chor der Schreienden nahm sie nur dann wahr, wenn sie sich darauf konzentrierte. Ansonsten nahm sie alles in sich auf wie ein trockener Schwamm. Was angesichts ihrer Jugend auch verständlich war.
»Was haben wir denn da?«, hauchte Kassandra vor sich hin; ihre Stimme klang jaulend, wie aus einem defekten Lautsprecher kommend. Sie streckte die Hände nach einem handtellergroßen, grün glitzernden Kristall aus, der zusammen mit etwa 20 weiteren Kristallen an einer dampfenden Felswand zu kleben schien. Sie war klein und schmächtig, gerade einmal einen Meter und zwanzig groß. Doch wer sie anhand ihrer geringen Körpergröße als ungefährlich einstufte, wurde schnell eines Besseren belehrt.
Ihre kleinen dünnen Finger versuchten vergeblich, den Kristall aus der Felswand zu lösen. Unwillig verzog Kassandra den Mund. Ihr ansonsten menschliches Gesicht hatte leichte Ähnlichkeit mit Augen- und Nasenpartie einer Katze. Ihre zornig blickenden roten Augen stachen deutlich von der dunkelbraunen Haut ab.
»Verdammt, geh ab!«, fluchte sie und kratzte mit den Krallen der rechten Hand über den Kristall. Ein Knirschen das durch Mark und Bein ging begleitete diese Aktion. Der Erfolg war gleich null.
Erneut versuchte sie, den Kristall zu lösen. Aber auch beim zweiten Versuch musste sie passen. Sie biss die Zähne aufeinander und verzog das Gesicht, bis sich die langen spitzen Ohren etwas einzogen und eng an den Kopf anlegten. Das war ein schlechtes Zeichen, denn in diesem Zustand war sie extrem leicht reizbar.
»Du Scheißding! Dir werde ich's zeigen!«
Die kleine Dämonin trat einen Schritt zurück. Sie kniff die Augen zusammen, bis nur noch Schlitze zu sehen waren. An ihren Schläfenadern war deutlich zu erkennen, wie das schwarze Blut pulsierte.
Kassandra ballte die kleinen Finger zu Fäusten, bis die Krallen schmerzhaft in die Handballen stachen, und starrte den Kristall durch die Augenschlitze an, als wollte sie ihn hypnotisieren.
»Verreck doch!«, stieß sie unbeherrscht hervor.
Schwarzer Qualm entwich aus dem Kristall. Der nahm in Sekundenschnelle eine dunkle Tönung an, sodass er fast die Farbe der Felswand bekam. Kassandra zog die Augenbrauen nach oben. Einen Chamäleonkristall hatte sie noch nie gesehen.
Der Qualm wurde dichter. Kassandra schüttelte in menschlich anmutender Weise den Kopf. Sie verzog die Nase und trat einen
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