Vision - das Zeichen der Liebenden
gab es wirklich einen Grund, der das, was sie hier gerade taten, rechtfertigte?
»Wir verlieren kostbare Zeit.« David schüttelte entschieden den Kopf. »Bring mir bitte das Schwert. Je eher wir die Sache hinter uns bringen, desto besser.«
Jana riss sich zusammen. Sie ging zur Kommode und nahm Obers Schwert in beide Hände. Es war so schwer, dass ihr die Arme schmerzten, als sie es David reichte. Er hielt es vor die Lampe, um die in den Griff eingearbeiteten Motive und die zarten, in die Klinge ziselierten Figuren zu studieren.
»Aranox.« In seiner Stimme schwang eine Bewunderung mit, die sogar seine Schwester überraschte. »Das Schwert, das einmal alle Medu gerettet hat. Jede dieser Figuren steht für ein ganzes Leben. Sieh sie dir an. Macht und Weisheit von zwölf Generationen konzentriert auf einer Klinge aus Stahl.«
Jana stellte sich neben ihn. Die wunderschönen Abbildungen, die sich auf der Schwertklinge aneinanderreihten, waren nur aus der Nähe zu erkennen, sie wirkten viel feiner und vollkommener als die goldenen Reliefs auf dem Griff. Sie entdeckte einen Adler, einen Delfin, den Kopf eines Hirschs, eine Eidechse, eine Spinne… Jede einzelne Figur war früher einmal das Tattoo eines Drakul-Anführers gewesen, jetzt verkörperten sie alles, was von diesen Kriegern noch übrig war. Das Schwert war zu ihrer letzten Ruhestätte geworden, es bewahrte ihr Andenken und hielt sie zugleich über ihren Tod hinaus lebendig.
Schon in wenigen Momenten würde eine neue Figur neben den anderen auf der Klinge erscheinen.
Jana konnte nur mit Mühe einen Entsetzensschrei unterdrücken, als David ohne Vorwarnung das Schwert hob und es Ober mit aller Kraft in die Brust stieß, mitten in das Tattoo. Der Brustkorb des Drakuls fiel jäh zusammen, dickes dunkles Blut schoss heraus, das im trüben Schein der Lampe purpurrot glitzerte und sich auf der nackten Haut schnell zu einem verschlungenen Geflecht ausbreitete.
»Er ist tot«, sagte David mit gedämpfter Stimme.
Jana beobachtete starr vor Schreck, wie er den Griff des Schwertes packte und ihn aus dem Leichnam zog.
Die Augen der Geschwister trafen sich. Jana umklammerte ihre rechte Hand mit der linken, damit David nicht merkte, dass sie zitterte. Langsam glitt ihr Blick zu der blutigen Klinge des Schwerts hinunter, wo jetzt eine neue Figur erschienen war: ein winziger, aufgerichteter Drache.
Ohne das Blut von der Klinge zu wischen, trat David an Eriks Bett. Jana zögerte kaum merklich, dann folgte sie ihm. Einen Augenblick lang betrachteten beide das abgezehrte, aschfahle Gesicht von Obers Sohn. Wäre da nicht das Röcheln gewesen, das noch immer in unregelmäßigen Abständen aus seinem Mund kam, hätten sie ihn für tot gehalten.
Vorsichtig beugte David sich vor. Er tippte mit der Schwertspitze an die schwarze Wunde auf Eriks Schulter, bevor er überraschend sanft die Decke zurückschlug und Aranox senkrecht auf der nackten Brust des Verletzten platzierte. Als das Metall die Haut des Drakul-Nachfolgers berührte, kam es Jana so vor, als husche ein gedämpfter Lichtschimmer von der Spitze der Klinge bis zum Griff.
Dann geschah etwas Unglaubliches: Unter dem Schwert begann sich auf Eriks Haut ein dunkler Fleck in alle Richtungen auszubreiten, ähnlich wie sich Tinte auf Papier ausbreitet, wenn sie verläuft. In Sekundenschnelle schärften sich die Konturen des Flecks, unzählige Details wurden sichtbar: das silbrige Funkeln von Schuppen, dunkle, unendlich weise Augen, die fast durchsichtige Oberfläche von Flügeln…
Das Schwert blitzte kurz auf und erlosch dann. Das Ritual war zu Ende, Obers spirituelle Kraft auf seinen Sohn übergegangen. Das Tattoo des Drachen, das David zuvor so sorgfältig retuschiert hatte, prangte nun auf Eriks Brust.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Jana tonlos.
David trat erschöpft einen Schritt vom Krankenbett zurück. »Jetzt? Keine Ahnung. Warten, nehme ich an. Warten, bis etwas passiert.«
Jana nahm seine rechte Hand und drückte sie liebevoll. »Mama wäre stolz auf dich«, flüsterte sie. »Deine Magie ist einzigartig.«
Als David ihr sein Gesicht zuwandte, stellte Jana fest, dass seine Augen feucht waren. »Ich bin kein richtiger Magier, nur ein Künstler. Das, was ich mache, lässt sich nicht wiederholen. Vielleicht ist die Kunst die Magie des Einzigartigen.«
Er richtete den Blick noch einmal auf Obers blutüberströmten Körper, der nun verlassen auf dem Krankenhausbett lag. »Er hat Mama umgebracht. Du kannst
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