Vision - das Zeichen der Liebenden
Nur ihr Aussehen hat sich von Epoche zu Epoche verändert. Du weißt, was eine Klepsydra ist, oder? Eine Wasseruhr.«
Zitternd vor Aufregung drehte Alex sich langsam um. Auf der letzten Stufe der Treppe stand ein Mann, ein warmes Lächeln lag auf seinem Gesicht. Ein Mann, den er so gut kannte… Zumindest hatte er das lange Zeit gedacht. »Papa«, flüsterte er und konnte nicht anders, als die Erscheinung ungläubig anzustarren. »Papa. Träume ich?«
»Nein, Alex, das hier ist kein Traum.« Mit einem strahlenden Lächeln kam sein Vater auf ihn zu. »Und auch keine Vision. Ich bin wirklich hier. Wir sind zusammen, mein Junge.«
Alex strich sich das Haar aus der Stirn. Seine Knie waren weich. »Papa. Aber das kann gar nicht sein, du… du bist tot«, stammelte er, während Hoffnung und Trauer ihm die Kehle zuschnürten. »Das kann einfach nicht sein. Es wäre ein Wunder!«
»Du hast natürlich recht, Alex. In deiner Gegenwart bin ich tot. Und sobald du den Turm verlässt, werde ich es auch wieder sein. Es tut mir so unendlich leid. Nur der Turm macht es möglich, dass wir hier zusammen stehen. Aber zumindest haben wir dadurch ein paar Minuten, um in Ruhe zu reden. Es gibt so viel, was ich dir sagen will!«
Sie sahen sich einen Moment verlegen an, dann, wie auf ein geheimes Zeichen hin, fielen sie sich in die Arme. Als sie sich voneinander lösten, bemerkte Alex, dass seine Wange feucht war. Er wusste nicht, ob von seinen eigenen Tränen oder denen seines Vaters.
Wieder blickten sie sich an, doch diesmal lächelten beide. Alex wusste, dass dies die Gelegenheit war, all die Fragen loszuwerden, die sich in ihm angestaut hatten. Wenn jemand ihm Antworten geben konnte, dann sein Vater! Und doch wehrte sich etwas in ihm dagegen. Er wusste, dass schon die erste Frage den Zauber dieses besonderen Augenblicks unweigerlich zerstören würde.
Hugo schien sein Zögern zu bemerken. »Du willst bestimmt wissen, wo wir hier sind.« Aufmunternd zwinkerte er Alex zu. »Erinnerst du dich daran, was ich dir in Janas Vision gesagt habe? Dieses Gebäude heißt Turm der Winde. Man kennt ihn auch als ›Horologium des Andronikos‹. Er soll im ersten Jahrhundert vor Christus in Athen errichtet worden sein, seine Ruinen können dort bis heute besichtigt werden.«
Alex starrte seinen Vater an. »Wenn er in Athen steht, wie bin ich dann hergekommen? Gerade eben stand ich noch in irgendeinem Hinterhof von meiner Schule.«
»Der Turm der Winde ist eine Kreuzung in Raum und Zeit, hier überschneiden sich viele verschiedene Orte und Epochen. Deshalb ist er auch der einzige Ort auf der Welt, wo ein Toter sich mit seinem Sohn unterhalten kann. Es ist fast merkwürdig, dass die normalen Menschen diesem Geheimnis nie auf die Spur gekommen sind. Sie glauben, es gäbe mehrere Nachbildungen des Turms, zum Beispiel eine auf der Krim und eine auf einem Londoner Friedhof. In Wirklichkeit ist es aber immer dasselbe Gebäude.«
»Dann ist es ein magischer Ort?« Einen Moment lang siegte bei Alex die Neugier über die Wiedersehensfreude. »Wer hat ihn gebaut? Die Medu?«
Hugo kniff die Augen zusammen, als versuche er, etwas in der Ferne zu fixieren. »Das weiß niemand genau. Vielleicht dieser Andronikos. Aber ich glaube, der Turm ist schon viel älter. Es kann sogar sein, dass es ihn schon immer gegeben hat. Vielleicht nicht in dieser Form und mit diesem Äußeren, es ist möglich, dass er schon immer da war… Die Kurilen haben ihn jahrhundertelang benutzt, um einander zu treffen und Informationen auszutauschen. Du weißt, wer die Kurilen waren, oder?«
»Ja, einer der Medu-Klane. Sie konnten die verschiedenen Varianten der Zukunft sehen und sie beeinflussen. Jana hat mir von ihnen erzählt.«
Hugo nickte. Sein Lächeln war erloschen. »Das Leben der Kurilen war nicht einfach«, erklärte er, den Blick fest auf seinen Sohn gerichtet. »Für ihre Zukunftsvisionen mussten sie einen hohen Preis zahlen: den Verzicht auf die Vergangenheit. Du kannst dir nicht vorstellen, wie hart das ist, mein Junge. Irgendwann gewöhnt man sich natürlich daran. Man hat keine Erinnerungen mehr an die Menschen, die man liebt. Alles, was bleibt, ist die Beziehung zu ihnen in der Zukunft, die man in den Visionen sieht. Nur so kann man sie weiterhin lieben.«
»So ein Leben kann ich mir gar nicht vorstellen.« Zweifelnd hob Alex die Schultern.
Sein Vater lächelte bitter. »Vielleicht hilft dir ein Beispiel. An dem Tag, an dem du zwei wurdest, habe ich mich an nichts
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