Visionen Der Nacht: Der Geheime Bund
»Deine Mutter hat gesagt, dass du auch dabei warst.«
»Ich war doch erst fünf«, sagte Anna.
Sie beschlossen, sich durchzufragen. In einem Souvenirladen kauften sie eine Karte und wurden zum Royal British Columbia Museum geschickt. Dort erkannte zwar jemand Kaitlyns Skizze eines Inuksuk, hatte aber keine Ahnung, wo auf der Insel so etwas zu finden war. Dasselbe wiederholte sich im Kamerageschäft, in der Buchhandlung, in dem Laden mit
britischen Importprodukten und im indianischen Kunsthandwerkergeschäft. Auch die Bibliothekare der Stadtbücherei von Victoria konnten ihnen nicht weiterhelfen.
»Vielleicht fahren wir jetzt doch besser aufs Geratewohl los«, sagte Gabriel.
Lewis nahm die Karte heraus. »Wir können nach Nordosten fahren oder nach Nordwesten«, sagte er. »Die Insel ist ein langes Oval, und wir sind ganz unten. Und bevor du fragst: Hier sieht aber auch rein gar nichts aus wie unser Griffin’s Pit. Es gibt Tausende kleiner Halbinseln entlang der Küste, eine wie die andere.«
»Wahrscheinlich ist sie für die Karte sowieso zu klein«, sagte Rob. »Werfen wir eine Münze. Kopf heißt Osten, Zahl heißt Westen.«
Kait warf eine Münze, die mit dem Kopf nach oben liegen blieb.
Sie fuhren nach Nordosten, immer die Küste entlang und hielten alle paar Meilen an, um sich genauer umzusehen. Als es dunkel wurde, hatten sie noch nichts gefunden, was dem Ort aus ihren Träumen ähnlich sah.
»Aber der Ozean scheint mir hier richtig zu sein«, sagte Anna, die auf einem Stein stand und ins blaugraue Wasser blickte.
Seemöwen schwirrten ihr vertrauensvoll um den
Kopf. Als Kaitlyn und die anderen näher herankamen, suchten sie das Weite.
»Es ist fast richtig«, stimmte ihr Kaitlyn zu. »Vielleicht müssen wir noch ein bisschen weiter nach Norden. Vielleicht liegt es auch an der Westküste.« Es war frustrierend, dass sie so nah dran waren und trotzdem nicht wussten, wo genau sie suchen sollten.
»Heute Abend finden wir es jedenfalls nicht mehr«, sagte Gabriel. »Es wird dunkel.«
Kaitlyn hörte die Anspannung in seiner Stimme. Es war nicht die für Gabriel typische Gereiztheit, sondern eine kaum vernehmbare Schärfe, die verriet, dass er in Schwierigkeiten war.
Er war den ganzen Tag stiller gewesen als sonst, zurückgezogen, als verschließe er seinen Schmerz tief in seinem Innern. Er hatte sich zwar immer besser im Griff, doch das Verlangen nahm unerbittlich zu. Es waren fast sechsunddreißig Stunden vergangen, seit Kaitlyn ihm am Strand in Oregon Energie gespendet hatte.
Was, um Himmels willen, wird er heute Abend tun?, fragte sich Kait.
»Wie bitte?«, sagte Rob und sah sie direkt an.
Sie hatte vergessen, ihre Gedanken abzuschotten. In der verzweifelten Hoffnung, dass er nur den letzten Teil mitbekommen hatte, erwiderte sie: »Ich habe mich gefragt, was, um Himmels willen, wir heute
Abend tun. Wie wir übernachten, meine ich. Wir sind fast pleite …«
»… und völlig ausgehungert«, warf Lewis ein.
»Und ganz bestimmt können wir nicht alle in diesem Auto schlafen.«
»Wir müssen ein billiges Motel finden«, sagte Anna. »Ein Zimmer können wir uns leisten, in der Nebensaison. Am besten fahren wir zurück nach Victoria. «
In Victoria fanden sie ein schlichtes Motel, in dem sie ein Zimmer mit einem Doppelbett und einem Einzelbett für achtunddreißig Dollar bekamen und niemand Fragen stellte. Im Zimmer blätterte die Farbe von den Wänden, und die Badezimmertür ließ sich nicht richtig schließen. Doch immerhin, betonte Anna, hatten sie ein Dach über dem Kopf.
Auf Robs Initiative erhielten die Mädchen die Betten. Lydia teilte sich ihres mit Anna. Offenbar hatte sie nicht vergessen, dass Kaitlyn ihr an die Gurgel gegangen war. Kaitlyn rollte sich in dem Einzelbett zusammen und zog sich das dünne Laken über die Ohren. Die Decken hatten die Jungs bekommen, die es sich auf dem Teppich bequem machten.
Kaitlyn schlief nicht sehr tief. Den ganzen Abend war Gabriel ihr aus dem Weg gegangen, um nicht mit ihr reden zu müssen. Kait entnahm seiner kühlen Entschlossenheit, dass er sein Problem allein lösen wollte.
Sie bezweifelte, dass er die Nacht durchhalten würde. Doch mittlerweile glaubte sie gut genug auf ihn eingestellt zu sein, um aufzuwachen, wenn er das Zimmer verließ.
Es funktionierte auch, zumindest teilweise. Kaitlyn schreckte auf, als sich die Tür mit einem Klicken schloss. Sie spürte, dass Gabriel nicht mehr da war.
Steif stieg sie aus dem Bett. Doch als sie einen
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