Visionen Der Nacht: Der Geheime Bund
Erst da begriff sie, was Gabriel mit seiner Warnung gemeint hatte.
Denn sie fühlte, was er fühlte. Und neben der Dankbarkeit, dem Wohlbefinden und der Erleichterung waren da noch andere Gefühle. Wertschätzung, Freude, Erstaunen und – oh, guter Gott … Liebe.
Gabriel liebte sie.
Sie sah sich in seinen Gedanken, ein Bild, das dermaßen verklärt, glorifiziert war, dass sie sich fast nicht wiedererkannte. Ein Mädchen mit rotgoldenem Haar, gleich dem Schweif eines Meteors, und wunderschönen rauchig blauen Augen mit herrlichen Ringen darin. Ein exotisches Wesen, das brannte wie Feuer. Mehr Hexe als Mensch.
Wie hatte sie nur so dumm sein können?
Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass Gabriel, der sarkastische, unberührbare Gabriel, sich überhaupt in jemanden verlieben könnte. Er hatte sich so verändert, seit er Iris geliebt – und getötet – hatte. Er war hart geworden, verbittert.
Doch das stimmte gar nicht.
Ein Missverständnis war ausgeschlossen. Kaitlyn spürte seine Gefühle deutlich, war umgeben von ihnen, tauchte ein in sie. Nach zwei Tagen Entbehrung hatte Gabriel die Kontrolle über sich verloren, und seine Schutzmauern waren eingestürzt. Er wusste, was
sie sah, konnte es aber nicht verhindern, weil er verzweifelt ihre Energie brauchte.
Kait hatte das Gefühl, sie sähen sich über einen schmalen Abgrund hinweg an, beide wie festgewachsen, unfähig, sich vor dem jeweils anderen zu verstecken. Sie blickte Gabriel in die unverstellte Seele. Das war nicht recht, es war nicht fair, denn sie wusste, was er in ihr zu sehen bekam – Freundschaft und Anteilnahme, das war alles. Sie konnte Gabriel nicht lieben. Sie liebte schon jemand anderen …
Doch da Gabriels Gefühle sie umspülten, über sie beide hereinbrachen wie eine sturmgepeitschte Woge, fiel es ihr schwer, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Gabriels Liebe zerrte an ihr, zog sie mit, verlangte, dass sie sie erwiderte. Dass sie sich völlig hingab, dass sie sich öffnete und ihm alles gab.
Was machst du da mit ihr?
Kaitlyns Herz setzte aus.
Es war Robs Stimme, und sie durchzuckte die abgeschlossene Welt der beiden wie ein Blitz. Von einem Moment auf den anderen war die stürmische Wärme, die von Gabriels Leidenschaft ausgegangen war, wie weggefegt. Die Verbindung zwischen den beiden brach ab, und sie gingen einen Schritt auseinander.
Als müssten wir ein schlechtes Gewissen haben, dachte Kaitlyn.
Rob stand unter einer schmiedeeisernen, verschnörkelten Straßenlaterne. Er war angezogen, doch sein Haar war noch vom Schlaf zerzaust. Er war zornig – und entsetzt.
Ungeachtet seiner Frage war er nicht auf Gabriel losgegangen, hatte sie nicht von ihm weggezogen. Er musste demnach über das Netz gespürt haben, dass Gabriel Kait zu nichts gezwungen hatte.
Es folgte ein langes Schweigen. Alle drei standen einfach nur da. Wie Statuen, dachte Kaitlyn verzweifelt, wie Salzsäulen. Jede Sekunde, die sie die Erklärung hinauszögerten, verschlimmerte den Anschein. Doch Kaitlyn war noch immer fassungslos.
Auch Gabriel befand sich offenbar in einer Art Schockstarre. Wie versteinert stand er da, die grauen Augen weit aufgerissen.
Schließlich brachte Kaitlyn mit trockenem Mund ein paar Worte heraus. »Rob, ich wollte dir schon lange sagen …«
Schlimmer hätte sie gar nicht anfangen können. Aus Robs Gesicht wich sämtliche Farbe, und seine goldenen Augen verloren ihren Glanz.
»Nicht nötig«, sagte er. »Es war ja nicht zu übersehen. « Er schluckte und fügte mit belegter Stimme hinzu: »Ich verstehe schon.«
Dann drehte er sich rasch um und ging. Rannte fast.
Rob, nein! So habe ich es nicht gemeint! Rob, warte!
Doch Rob hatte schon die Betontreppe erreicht, die zur Straße hinaufführte. Er wollte nur weg.
Kaitlyn sah ihm verzweifelt nach. Dann drehte sie sich zu Gabriel um, der noch immer reglos dastand. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch Kait spürte seinen Schmerz.
Ihr Herz pochte wild. Beide brauchten sie in diesem Moment, aber sie konnte nur einem von ihnen helfen. Sie musste eine Entscheidung treffen. Es blieb ihr nicht viel Zeit.
Mit einem gequälten Blick zu Gabriel wirbelte sie herum und lief Rob hinterher.
Sie holte Rob unter einer Straßenlaterne ein.
»Rob, bitte … du musst mir zuhören. Du …«
Kait war außer sich und konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Rob drehte sich zu ihr um und sah sie mit Augen an, die aussahen wie die eines verletzten Kindes.
»Es ist schon gut«, sagte er.
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