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Vögelfrei

Titel: Vögelfrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Andresky
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schnauft. »Ihr seid die geborenen Dramatiker. Deshalb deine ganzen Irrungen und Wirrungen? Ich hab mich immer gefragt, was dich eigentlich antreibt, wieso du so rastlos bist und oft so traurig, obwohl du eigentlich ununterbrochen Halligalli machst. Darauf brauche ich einen Schnaps.«
    Ich gebe Jannik ein Zeichen, er kommt mit einem Tablett näher.
    Ich sehe in die Runde. »Ist Grappa okay?«

8
    MAREI
    DIGESTIF:
     
    Grappa di Romano Levi
     
     
    »Gute Nacht, Freunde … und ein letztes Glas im Steh’n.«
    Ich summe vor mich hin, während ich den Grappa einschenke und mich einmal mehr über das handgemalte Etikett freue, auf dem man eine janusköpfige Frau mit zwei Gesichtern erkennen kann. »Was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarette«, summe ich weiter. Es ist spät geworden, und wenn man so betrunken ist, dass man anfängt, Reinhard Mey zu singen, sollte man die Party wirklich beenden.
    Ich reiche Leander ein Glas und küsse ihn lange. Seine Haut duftet nach Jasminreis. Seine Haare fallen weich und schwer über meine Hand, die seinen Nacken streichelt. »Wenn es ein anderes Leben wäre …«, flüstere ich ihm ins Ohr, aber er unterbricht mich, »… dann wären wir nicht wir«, und sieht mir tief in die Augen, bevor er einen Schritt zurücktritt.
    Liebste Gemma, wir bleiben in Kontakt. Erst heute, als ich mich Schicht um Schicht wie eine Zwiebel gehäutet und alle, fast alle meine Geheimnisse verraten habe, ist mir klargeworden, dass ich überhaupt nicht weiß, welche
deine sind. Als wir anstoßen, etwas zu heftig, und der Grappa im Glas schwankt, klingt es wie eine Abmachung. Mich wirst du nicht mehr los.
    Malte umarme ich nicht. Ich kann nicht nachvollziehen, wie er auf all das verzichten kann, die Berührungen und Küsse, die Wärme, das Knistern, wenn man fremde Haut fühlt und das Glück, wenn man vertraute Haut wiedererkennt; das Eintauchen ineinander, die Lust, die Ekstase, den Schmerz, die Dramatik und die Leichtigkeit; die Traurigkeit, nach der ein Kopfkissen morgens riecht, und das Brennen und Flüstern tief im Bauch und zwischen den Beinen, wenn man allein ist. Aber ich respektiere seine Entscheidung und verbeuge mich - ein bisschen schwankend - vor ihm.
    Bei Leo werde ich abwarten, was sich entwickelt. Ob wir befreundet sein können, nur wir zwei. Bisher waren wir immer zu viert: er, ich und unsere beiden Gespenster, Madhuri und mein Mann. Unsere ganz persönliche Geisterbahn, in der wir so laut herumgealbert haben, damit wir uns nicht fürchteten. Ich drücke ihn, und er hebt mich ein Stückchen vom Boden hoch.
    »Wir chatten«, sage ich, und er nickt.
    »Klar, immerhin müssen wir noch Hanni und Nanni und der Internats-Gangbang drehen.«
    Ich lache. »Und vergiss nicht Die Sendung mit der scharfen Maus .«
    Wir stoßen ein letztes Mal an. Wir trinken unsere Gläser auf ex, und der scharfe Stich stößt mir bis in den Magen und desinfiziert mir die Kehle.
    Jannik hält die Mäntel bereit. Am Taxistand gegenüber werden sich die Fahrer auf Kundschaft freuen.

    Die Haustür schnappt zu.
    Ich lasse mich auf einen Stuhl sinken. Jannik geht vor mir in die Knie, legt seine Hände auf meine Oberschenkel und wartet, bis sich unsere Blicke aneinander festhalten.
    »Ist es vorbei?«
    Ich hatte fast vergessen, wie warm seine Stimme klingt. Ich lehne mich erschöpft zurück.
    »Es ist vorbei.«
    Ich streiche durch sein Haar. Ein Jahr habe ich das nicht mehr getan. Ich muss ihn erst wieder kennenlernen und fahre wie eine Blinde mit den Fingerspitzen über sein Gesicht. Seine scharf geschnittene Nase, die hohe Stirn mit den feinen Linien, die schmalen Augenbrauen, die fast indianischen Wangenknochen. Das ist Jannik.
    Er knöpft sich das Hemd auf, bis ich die Tätowierung auf seiner Brust sehe. Es ist das Gegenstück zu meiner Lilie, ein kleiner Dschinn, der aus einer Flasche schwebt. »Ich wünschte, du hättest deine noch«, sagt er.
    Ich schließe kurz die Augen. »Ich auch.«
    Und dann küssen wir uns das erste Mal seit einem Jahr. Es ist genauso wie früher. Und es ist ganz anders. Ich erinnere mich sehr gut an seine Küsse, denn die ersten Wochen, als wir zusammen waren, haben wir kaum etwas anderes gemacht. Ich erkenne seine Lippen wieder, seinen Geschmack, die Art, wie sich seine Zunge vortastet, wie seine Hand meinen Hinterkopf umfasst, das Gefühl seines Atems auf meiner Haut. Fremd ist nicht er, fremd bin ich. Ich habe mich verändert in dem Jahr. Der Alkohol und das Gefühl unseres Kusses

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