Vögelfrei
rauschen in meinem Kopf wie ein Wasserstrudel. Ich gebe mich ganz
dieser Empfindung hin, lasse zu, dass ich vergesse, wo ich bin und was ich hier tue, rutsche immer tiefer, bis ich gar keine Worte mehr habe. Als wir uns voneinander lösen, ist mir schwindlig.
»Du siehst blass aus«, sagt er und lehnt seine Stirn an meine.
»Du bist der einzige Mann, den ich jemals gekannt oder«, ein kurzer Schluckauf, »gefickt habe, bei dem ich keine frigiden Träume hatte. Nur wenn ich mit dir zusammen war, bin ich irgendwann in diesem Chaos aus Schwänzen und Mösen, Händen und Zungen gekommen. Ganz kurz bin ich davon wach geworden, gerade lang genug, um mich zu dir rüberzurollen und wieder einzuschlafen. Und die Morgen danach waren immer wunderschön.«
Er nimmt mein Gesicht in seine Hände und küsst mich zwischen die Augen. »Schließt du sie auf?« Er zieht sein Hosenbein ein Stückchen hoch. Darunter kommt ein silbernes Kettchen hervor, seine Sklavenfessel. Es sieht aus wie eine Nummer in einer Revue, und ich muss kichern. Dann hole ich die Schatulle, nehme die kleine Schaufel heraus und gehe mit Jannik in den Garten. Sein Arm liegt fest um meine Hüften, damit ich nicht stolpere.
Draußen ist es kalt, es nieselt, und ich bin schlagartig nüchtern. Ich fühle mich, als hätte mich jemand mit Eisspray besprüht, bin erschrocken und ein bisschen betäubt. Kaum zu fassen, dass Adrenalin mit so viel Alkohol fertig wird, wie ich heute Abend intus habe.
Der Stein liegt noch neben der Fackel. Ich rolle ihn weg und schippe. Die Schaufel stößt schnell auf etwas Hartes. Gemeinsam ziehen wir die kleine Holzdose heraus.
Vor unserem Streit haben wir darin Briefmarken aufbewahrt. Seitdem liegen darin unsere Eheringe und der kleine Schlüssel für die Fessel. Ich nehme beides und gehe zurück ins Haus. Jannik verschwindet im Keller, wo er noch eine letzte, besonders gute Flasche Champagner kalt gestellt hat.
Ich lasse mich auf meinen Stuhl fallen und drehe die Ringe und den Schlüssel in der Hand. Das Jahr war eine lange, harte Strafe, und ich habe ihm nichts erspart. Manchmal war ich grausam zu ihm, und manchmal war die Trennung, die Freiheit für mich vielleicht schwerer zu ertragen als für ihn. Und das alles nur wegen Sex - kaum zu glauben. Aber wenn ich eins gelernt habe in diesem Jahr, dann, dass es niemals »nur Sex« ist.
Jannik wird jeden Moment mit der Flasche Champagner in der Hand aus dem Keller kommen, um auf das Ende unserer Trennung und auf unsere Zukunft anzustoßen.
Ich lege die Ringe und den Schlüssel auf den Tisch und verlasse das Haus.
Er wird sofort verstehen, dass ich wieder gegangen bin. Und dass es diesmal endgültig ist.
Ich gehe nicht im Zorn. Ich bin noch nicht einmal besonders traurig. Der Grund, weshalb ich jetzt gehe, ist nicht er, sondern ich.
Als ich das letzte Mal die Haustür hinter mir zuzog, war ich mir nicht sicher. Diesmal bin ich es. Jannik hat gebüßt für seinen Fehler. Aber ich weiß jetzt, dass ich keinen Mann will, der büßt, wenn er mich betrogen hat. Ich will einen, der mich erst gar nicht betrügt.
Ich will nicht weniger als den ganz großen, einzigen, kosmischen, markerschütternden und ausschließlichen Urknall. Mit rosa Zuckerguss und weißen Wattewolken. Mit Harfen und Engelschören. Mit dem ganzen kitschigen, herzzerreißenden Liebesscheiß.
Ich bin Marei.
Ich bin Single.
Vor allem aber bin ich Romantikerin.
Und dieser grauäugige Taxifahrer da, der mit dem Buch auf dem Lenkrad, der aussieht, als wäre er in Wirklichkeit ein ganz stiller Dichter, der gern mit einer dicken schnurrenden Katze auf dem Schoß Stadtpläne und Landkarten studiert - der sieht doch wirklich lecker aus.
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Originalausgabe 05/2009
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eISBN : 978-3-641-01049-2
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