Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
Bedürfnisse nach Verständnis schweigen zu lassen. Ein langer Weg, den kleine, dürre Beine gehen sollen.
Der Indianerstamm hatte gerade einen neuen Häuptling gewählt, als das Telefon im Wohnzimmer klingelte. Mein Vater sprach ernst in den Hörer, und der Hörer antwortete viel zu leise, um die Ernsthaftigkeit begreifbar zu machen. Mein Vater legte irgendwann auf, veränderte seine Miene nur geringfügig, als hätte er einfach nicht so viele Ausdrücke zur Verfügung und wollte demnach keinen verschwenden. Ich sah aber etwas im Vatergesicht, was ich so nicht kannte, wusste aber nicht, was das war. «Opa ist im Krankenhaus, Schlaganfall.» Mein Vater war ein unsensibler Informationsübermittler. Ich weiß noch, in welcher Schrillheit das Telefon geklingelt hatte und in welchem überragend gefühlskalten Ton mein Vater mit irgendeinem seiner vielen Geschwister gesprochen und dann diesen Satz an die Familie weitergegeben hatte, ohne ihn näher zu erklären. «Opa ist im Krankenhaus, Schlaganfall.» Dieses Wort brannte sich in meinen sensiblen Kinderschädel ein und verursachte augenblicklich eine immense Unruhe. Schlaganfall . Das klang nach purer Gewalt, nach Niederstreckung, nach jemanden zu Boden reißen und sogar nach nachhaltigem Verprügeln eines auf dem Boden liegenden Körpers. Schlaganfall. Niemand erklärte mir etwas. Meine Mutter, mein Vater und ich setzten uns stumm hin, aßen Brot und tranken Tee, und ich weiß noch, dass der Tee viel zu heiß war und das Brot viel zu trocken und die Stimmung viel zu traurig. Alles schmeckte anschließend nach nichts mehr. Es roch nach kalt werdendem Kamillentee und fühlte sich an wie trockenes Brot. Dass trockenes Brot auch ein Gefühl sein kann, habe ich früh gelernt. Ich fühlte mich wie getrocknetes Graubrot, verfütterbar an Enten, umgeben von undurchsichtigem Schweigen.
Draußen quietschten öffentlich und trotz laut schallendem Stimmengewirr in diesem Raum gut hörbar Plastikräder auf Plastikfußboden und leise verhallten Schritte, die ein Ankommen oder ein Weggehen ankündigen.
Das Krankenzimmer ist voll von Menschen, alle sind sie wieder da. Mein Vater hat sieben Geschwister, alle verheiratet, alle haben sie mindestens zwei Kinder, das sind meine Cousinen und Cousins. Die meisten mag ich nicht. Das Krankenzimmer riecht nach denen, die ich nicht mag, und nach Medizin. Auch ich stehe rum und weiß nicht, warum.
Ab und an bücken sich nach schweißüberdeckendem Parfüm stinkende Tanten und Onkel zu mir runter, kneifen mir in die Wange, heben mich ein Stück hoch, meinen, das gefiele mir, und stellen mich wieder irgendwo anders hin, wo ich nicht sein will. Ich will gar nicht hier sein, hier passiert irgendetwas, was nicht gut ist. Ich ergreife die Hand meiner Mutter, und es macht sich eine Hilflosigkeit breit, die ich nicht kenne und die mich ängstigt. Auch meine Mutter ist in dieser Befangenheit eingeschlossen, ihr Händedruck ist matt und ausdruckslos.
Zentrum der Menschentraube, die meine Familie väterlicherseits bildet, ist ein graues, krankenhaustypisches Pflegebett. Darin liegt mein Opa und sieht aus, als hätte man ihn tief ins Laken geprügelt. Er ist blass und man sieht seine schlimme Dünnheit, das erinnert mich an die Fernsehbilder befreiter Juden aus Konzentrationslagern. Das habe ich mal gesehen und da hatte ich zum ersten Mal eine Vorstellung davon, wie ein mit Haut umspanntes Skelett aussieht. Es war erschreckend. Meine Eltern, die auch anwesend waren bei dieser Sendung, hielten es aber nicht für notwendig, mir zu erklären, warum die Menschen so aussahen und warum sie überhaupt in diesen Lagern waren.
Das ist also ein Schlaganfall. Ich spürte, wie es zitternd in mir arbeitet, wie meine Augen diese ganzen Eindrücke meinem Gehirn zu vermitteln versuchen. Der Kopf sucht nach Ordnung der Dinge. Aber nirgendwo gab es in meiner Erinnerung Vergleichsbilder, außer eben diese Fernsehbilder, die ich auf einem Schwarz-Weiß-Fernseher gesehen habe.
Da lag mein Opa, wie alt er war, weiß ich nicht, und er strahlte eine grausame Grauheit aus, seine Haut so spröde wie rissiger Beton, kaum mehr ein Mund vorhanden, die Lippen hatten sich fast ganz nach innen verzogen. Sprechen, so sagte meine Oma, die auch im Raum war und direkt neben dem Pflegebett auf einem Stuhl saß, könne er ohnehin nicht mehr seit eben diesem Schlaganfall, der das mit meinem Opa gemacht hatte, was wir nun alle ansahen. Seine Augen waren die ganze Zeit geschlossen, aber unter
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