Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
herumkrauchend den Ball. Ich rannte zu ihm. Als ich bei ihm war, deutete Frank auf eine Art Gullideckel, der direkt an die Rasenfläche angrenzte. Das Teil bestand aus vier parallel angeordneten Metallstreben, zwischen denen der Ball locker durchgepasst hätte. Das Dunkel unterhalb dieser Streben ließ keinen Blick in die Tiefe zu. «Da iss’er wohl rein», krakelte Frank und lachte laut, und ich wollte sofort anfangen zu weinen. Der Ball. Opa kann nicht ohne ... sein Gehirn. Ich versuchte, meine Augen zu zwingen, vielleicht doch in der Dunkelheit irgendwas sehen zu können. Vergeblich. Verdammt. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie meine rauchende Mutter aufstand und umherblickte.
«Los, Jungs, wir gehen wieder zu Opa hoch.» Meine Mutter hatte ihre Zigarette mit der Fußsohle auf dem Asphalt vor dem Krankenhausvorplatz ausgetreten und atmete noch eine Rauchschwade aus. «Mama, der Ball ist weg.» Ich fühlte mich wie eben jene ausgetretene Zigarette, meiner kindlichen Glut beraubt, zur Nichtigkeit verkrüppelt. Mein Denken war an diesen Ball gebunden und mit ihm in den Gullideckel gefallen. Dumm machende Panik erfasste mich, meinte ich doch, dass dieser Ball für meinen Opa die einzige Rettung wäre, um jemals wieder die Augen zu öffnen. Tränen schoben sich in meine Augen, machten die Sicht auf die Dinge noch uneindeutiger, als sie ohnehin schon war. «Opa kriegt dann einen neuen, kommt jetzt.» Meine Mutter war ungeduldig und leicht gereizt und verstand nicht die Wichtigkeit, die ich mit dem Verlust der kleinen gelben Filzkugel verband. Ich hatte Opas Ball verloren gemacht. Ich spürte eine tiefe Leere, fühlte mich wie eine restlos ausgetrunkene Coladose, die Jugendliche achtlos aus dem Auto geworfen hatten und die nun naturverfeindet und umgebungsunangepasst vor sich hin rostete. Ich ging schweigend hinter meiner Mutter her. Frank fing wieder an zu springen. Sein Hüpfen bestätigte mir die Gleichgültigkeit seiner Empfindsamkeit. Er stank nach kaltem Kakao aus dem Mund, einem Geruch, den ich hasste, der mein Brechzentrum reizte. Er müffelte vor sich hin und sein Gang war der einer besoffenen Gazelle im Nieselregen. Leicht, flüchtig und auf der Suche nach ekelhafter Eleganz.
«... unser tägliches Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern ...» Alle im Raum murmelten dieses Gebet. Die meisten guckten nach unten, als schämten sie sich für etwas, was gerade passiert war. Wussten sie schon von dem Ball? Meine Oma saß neben meinem Opa und streichelte sein Gesicht. Sein Mund stand offen und seine Augen waren geschlossen. Als wir den Raum betraten, sahen einige kurz auf, mein Vater blickte mich an und hatte rotgeweinte Augen. Meine Mutter hielt die Luft an, Frank lachte und hopste ins Zimmer auf seine Mutter zu, die auch rote Augen hatte und ihm einfach eine knallte. Die flache Hand und das darauf zulaufende Kind kamen kurz in Kontakt und es brach ein Geräusch ins Gemurmel, das Applaus hätte werden können, dafür aber zu kurz war. Frank war dann still, heulte leise und stellte sich vor seine Mutter, die ihre Arme um seinen dünnen Oberkörper schlang. Ich konnte nichts sagen, traute mich nicht zu fragen, was hier los sei, und die Verwandtschaft betete weiter.
«... und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen, denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Amen ...» Ein paar Tanten, die immer noch am Fenster standen, wischten sich mit Stofftaschentüchern Tränen von den dicken Gesichtern.
Ich spürte, dass diese ganze Szene Gigantismus beinhaltete, etwas, was ich nicht hinterblicken konnte, aber dergestalt groß war, dass sich keiner gedanklich an diesen im Raum schwebenden Mythos heranwagte, und weil keiner der Anwesenden irgendetwas zu verdeutlichen versuchte. Für mich hatte dieser Mangel an Greifbarkeit der Situation etwas Gefahrvolles wie auch etwas absolut Interesseweckendes. Da lag mein Opa, mit geschlossenen Augen und offenem Mund, und war der erste Mensch, den ich tot gesehen hatte, und der erste Mensch, den ich mit einem Tennisball getötet hatte.
Wir fuhren schweigend nach Hause. Mein Vater atmete, als würde sein Atem gleich nicht mehr aus ihm herauskommen, als würde die Mundhöhle immer enger und die Luft in ihm immer verbrauchter.
Wir waren draußen, als mein Opa starb. Meine Mutter, Frank und ich, und ich hatte Opas Ball verschwinden lassen. Ich dachte wirklich, ich wäre schuld an
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