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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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seinen Augenlidern schien einiges zu passieren.
    Ich wunderte mich über den Tennisball, den mein Opa mit geschlossenen Augen von Hand zu Hand rollte, ab und an zudrückte und dann wieder rollte. Diese Bewegung der Hände schien seine ganze Konzentration zu fordern. Ich sah seine blauen Adern auf der knochigen Hand, die immer dann hervortraten, wenn er der gelben Filzkugel Druck gab. Seine Bewegungen waren von einer unaushaltbaren Zeitlupenhaftigkeit. Ich starrte das an, was mein Opa da machte, und es verzauberte mich für einen langsam verstreichenden Moment.
    Ich fragte meinen Vater, der hinter mir stand, welche Funktion denn der Tennisball habe, und er versuchte es mir zu erklären. Der war da, weil Opas Gehirn kaputt war, und wenn er das mit dem Ball tat, was er gerade mit diesem Ball tat, dann würde sein Gehirn vielleicht wieder besser. Danach wandte er sich wieder Onkel Helmut zu.
    Dann erschrak ich, wurde aus meiner Kinderlethargie gerissen, denn mein Cousin Frank stand neben mir und verhielt sich so, als müsse er zur Toilette, musste er aber nicht, sondern ihm war lediglich langweilig. Diese Tatsache unterstrich er mit einem permanenten Auf- und Abhüpfen und einem unruhigen, ziemlich deplatzierten und irrsinnigen Lachen. Aber das Lachen war ansteckend, ich kannte das Lachen aus der Schule, wo Frank jeden Tag neben mir saß, und wenn er mit dieser Art zu lachen begann, konnte ich nur noch mitmachen. Zur Verzweiflung unserer Lehrerin, Frau Schmidt, die dem lachenden Frank keinerlei Einhalt gebieten konnte. Und wenn er lachte, musste ich immer mitlachen, egal, in welchem Gemütszustand ich mich selbst gerade befand, das Lachen sprang einfach über und ich konnte mich trotz Gedankenverlorenheit nicht dagegen wehren. Mein Körper reagierte automatisiert. Frank roch wie immer nach Kakao, nach kaltem Kakao, eigentlich ein unliebsamer Geruch, aber das Lachen ...
    Die meisten Gespräche im Krankenzimmer handelten aber nicht von Opa und diesem Schlaganfall, sondern viele Onkel und Tanten waren einfach froh, sich wiederzusehen, mein Vater sprach mit irgendwem über lokalen Fußball, Onkel Heinz und Onkel Walter verschwanden alle fünf Minuten zum Rauchen, das Kollektiv der Tanten, die sich größtenteils an der Fensterfront des Krankenzimmers aufhielten, verfiel mit meiner Oma in ein heilloses Geschnatter.
    Frank und ich lachten schon eine ganze Weile vor uns hin und mein Cousin sprang dabei unruhig durchs Zimmer, was wohl seiner Mutter und auch anderen Tanten missfiel. Meine Mutter bot irgendwann an, mit uns beiden nach draußen zu gehen, und dann machte sie etwas, was ich nicht von ihr erwartet hätte. Sie nahm meinem Opa die Filzkugel aus der Hand und sagte, wir sollen draußen damit spielen. Ich versuchte zu verstehen, was sie da gerade gesagt hatte, und vor allem, welche Bedeutung das für meinen Opa hatte. «Er kommt schon ’ne Weile ohne den Ball aus, Kinder, geht ihr mal draußen spielen», sagte mein Vater noch, als meine Mutter mit Frank und mir aus dem Zimmer ging.
    Meine Mutter war wohl auch froh, den vollen, stressgefüllten Raum endlich, wenn auch nur kurzfristig, verlassen zu können. Sie lächelte stumm und wir gingen hinter ihr her zum Aufzug. Drei Stockwerke abwärts und die ächzende Metalltür spuckte uns ins Freie. Durch die Tür und dann gab es da eine Luft zu atmen, die endlich mal nicht mehr Krankenhaus war. Draußen steckte sich meine Mutter eine Zigarette an, und Frank und ich rannten mit Opas Ball, den meine Mutter mir im Aufzug in die Hand gegeben hatte, auf eine Rasenfläche zu. Da war dann alles vergessen und kindlicher Spieltrieb regierte unser Handeln. Fußball. Der kleine Filzball wurde von uns über die Wiese getreten; Frank war etwas übermütiger als ich und ballerte das Teil zehn Meter über die Wiese. Ich lief dann dahin, wo sich das gelbe Filz gutmütig im satten Grün des Rasens abzeichnete. Dann nahm ich die Kugel hoch und versuchte einen Torwartabschlag, und ich hatte die Motivation, den Ball über dieselben zehn Meter zu Frank zurückzuschießen. Er hopste wieder wild auf und ab, meine Mutter hing immer noch ihren Gedanken nach und an ihrer Zigarette, das sah ich lediglich aus dem Augenwinkel. Ich schoss. Der Ball flog weit. Bis hin zu Frank, über Frank hinaus. Dann senkte er sich wieder und kam auf dem Boden auf, dann noch mal, dann verschwand das runde gelbe Filzding aus meinem Blickfeld. Was für ein Schuss! Frank hatte sich bereits umgedreht und suchte im Gras

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