Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
Blick fixierte, gerade aus dem Tagtraum herausgleitend, das Leuchtschild am Bus. Linie 7, alles klar, das war der mittellange Heimweg, vorbei am Industriegebiet, das wie mein Herz aussieht. Und wahrscheinlich auch so riecht.
Ich stieg ein und lief durch den Bus bis ganz nach hinten. Die letzte Reihe in diesen Stadtbussen besteht ja aus einer großen Sitzbank. Das war auch immer jene Bank, wo zur Schulzeit nur die Coolen sitzen durften, also zumeist die Oberstufenschüler, und die verteidigten ihren «Thron der Anerkennung» notfalls mit körperlicher Gewalt. Wenn sich also mal eine kleine Wurst, wie ich sie war, auf diesen Sitz verirrte, dann gab es meistens mächtig eine rein, damit dieser Platz von den Königen der Coolness eingenommen werden konnte. Ich war noch nie ein durchsetzungsfähiger Mensch, gerade bei solch eigentlich stupiden Sitzangelegenheiten gab ich einfach nach, wenn jemand meinen Platz für sich beanspruchte; ich wehrte mich nicht, weil ich ein dünnes, schwaches und auf keinen Fall kampferprobtes Kind war. Aber jetzt hier zu sitzen erfüllte mich nachträglich mit einer minimalen Prise Gewinnerbewusstsein, das war zwar über zwanzig Jahre her, aber dennoch unvergessen. Manchmal bedarf es halt des Abwartens, um auch mal ein wenig den Geruch des Sieges inhalieren zu dürfen.
Ich kauerte mich rechts in die Ecke, kramte meinen Mp3-Player aus der Jackentasche und wollte irgendwas Unsanftes hören, was mich wach hielt und trotzdem emotional ansprach. Auf meinem Player befanden sich fast ausschließlich derbe Metalplatten, ein bisschen Singer/Songwriter-Zeug, und beim Durchzappen der Titel entdeckte ich alte, derbe Metalmusik, Musik, die ich als Jugendlicher für mich entdeckt hatte und die sich schön konstant, wie eine gute Freundin, an mein Leben schmiegte. Ich war sehr dankbar für diese Entdeckung.
Nostalgie gefolgt von Nostalgie. Diese Musik hatte ich als Sechzehnjähriger unendlich zelebriert. Das war meine Ideologie, jetzt ist es eine blasse Erinnerung, aber auch blasse Erinnerungen sind mentale Wertgegenstände. Stehen so rum, die blassen Erinnerungen, wie Multi-Sanostol-Kinder und warten auf Anerkennung. Ich machte die Musik noch etwas lauter und neben dem apokalyptischen Getrommel, und einer schönen todesnahen Stimme, bemerkte ich, wie ein Splitter Kindheit in mir auftauchte; ganz unbewusst, fast zärtlich zog mich eine Erinnerung zu sich und ich folgte ihr.
Da stand ich dann, im verzerrten und ungenauen Rahmen dieser Kindheitserinnerung, breitbeinig und sechzehnjährig, schüttelte meine dünnen Haare gegen die Unterdrückung durch Schule und Elternhaus und war einfach nur froh, dass Musik sowohl Medizin als auch Droge und Waffe sein konnte.
Wohin mit dem Hass, und woher kommt er, verdammt?
Wohin mit der Wut, und was soll aus ihr werden, wenn ich sie nicht auslebe?
Wohin mit der Trauer, wie viel davon passt in einen Menschen?
Wohin mit dem mir bekannten zerbrechlichsten aller Gemüter, also mit meinem?
Das waren die relevanten Fragen damals, einige von ihnen sind geblieben bis in die Neuzeit, wurden nie wirklich beantwortet, einige von denen habe ich mit Erfahrung beantwortet, andere mit harter Metalmusik. Ich taumelte zurück in die Realität, in der ich in einem Bus saß und die Stadt floss an mir vorbei. Autofahrer, Radfahrer, Fußgänger, der ganze beleuchtete stinkende Ameisenhaufen war unterwegs auf unruhigen Pfaden. Als der Bus an einer Haltestelle stoppte, stiegen Leute ein und aus, doch die waren nicht so relevant für mich, ich war nur noch in mir und der Schlitz meiner Augen, durch den ich die Realität wahrnahm, wurde immer kleiner ...
***
Das Kinderleben. Ich war eine Kleinigkeit zu klein für mein Alter, aber meine Fantasie war immer imstande, das auszugleichen. Maximal verspielt, so ging es mir gut, mein Kopf war mit allerlei Geschichten ausgestattet, die sich in meinem Bewusstsein drehten. Cowboys, Indianer, Ritter, Piraten, Astronauten, Außerirdische, Polizisten und Verbrecher gaben meiner Spielwelt fantastische, aber dennoch konkrete Gesichter. Aber als Kind weiß man noch nicht, dass so ein Bewusstsein ein Bewusstsein ist und was es kann, dieses Bewusstsein. Ich war gerade sechs Jahre alt. Das Gehirn eines Sechsjährigen sollte nicht mit Schuld beladen werden, nicht so schüppenweise gehörte der Dreck auf meine Existenz geschaufelt. Ich würde gerne fühlen oder denken und Abwendestrategien entwickeln. Meine Umwelt schweigt, ich lerne gerade, auch meine
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