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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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dieser kollektiven Familientrauer. Niemand sagte ein Wort, auch meine Mutter, die viel leiser schweigen konnte als alle anderen und die von meiner Panik wegen des Balls wusste, sagte nichts und sah teilnahmslos aus dem Fenster. Ab und zu rauchten meine Eltern und es roch nach Zigarettenqualm, und ich saß auf der Rückbank eines kleinen braunen Opel Kadetts und weinte leise nach innen.
    ***
    Immer noch ratterte harte Metalmusik auf mich ein und ich öffnete die Augen. Die Musik war laut und ich trotzdem nicht bei ihr, sondern ich hing an diesem Fetzen Erinnerung wie der Schnauzbart am Kegelclubvorstandsvorsitzenden.
    Ich sah mich schreckhaft um wie ein kleines Wiesel, das Gefahr in der Nähe spürt und eine Fluchtrichtung auszumachen suchte. Bekannte Umgebung, zumindest eine, in der ich vorher schon mal war. Halb schlafend, fremdgesteuert. Ich bin ein naiver Neverchecker. Das war wieder der Beweis dafür, dass die eigentliche Realität verschwinden kann, wenn man die Augen schließt, hierbei allerdings unter Zuhilfenahme von rasant vorwärts preschender Metalmusik.
    Jetzt sah ich die Kennzeichnung der Haltestelle: Kastanienstraße, hier musste ich raus. Der Busfahrer bekam wohl mit, dass ich gedankenverloren auf der letzten Bank schlummerte. Er sah so aus, als wüsste er sonst auch eine ganze Menge, dieser Busfahrer, wie er da so abseits jeder Dienstlichkeit lächelte. Ich hastete stolpernd durch den Bus, mein Rucksack, den ich in der Hand hielt, schleifte auf dem Boden, Metalmusik hatte noch immer meinen Kopf besetzt. Die Augen des Busfahrers begegneten meinen auf eine Distanz vermeidende Art, und sein Lächeln war wie das eines verständnisvollen Sozialarbeiters, der mit einem zusammen eine gottverdammte Drogensucht besiegen wollte. Ich hatte keine Motivation, diesem Blick etwas Gleichwertiges zurückzuschenken. Stufe, Stufe, Bürgersteig, hinter mir zischte die Bustür und das schwere Gerät integrierte sich schleppend in den Straßenverkehr.
    Ich hatte noch einige Schritte zu gehen und wechselte erst mal von Metalmusik zu Tom Waits. I wait, you wait, Tom waits . Ich schmückte mir das Heimgehen mit einer Filterzigarette und dieser schweren Musik eines alten Mannes, der sich mit seiner zigarettenrauch- und whiskeybeeinflussten Stimme in meinem Gehörzentrum brach und mich zur Langsamkeit zwang. Bewusste Schritte.
    «Come with me, together we can take the long way home», so fiel es Waits aus dem Gesicht in meinen Gehörgang. Seine Stimme umgarnte meinen Gehörgang ersatzväterlich. Wenn ich Tom Waits mit meinem real existierenden Vater verglich, war es Waits, der die klügeren Dinge sagte, aber es war mein Vater, der den härteren Ausdruck hatte und zu dem ich mir die Nähe wünschte, die ich zu einer Person wie Waits ja bereits hatte. Ja, der jemand, der mit mir den langen Weg nach Hause ging, der fehlte noch.
    Ich lief durch den Hinterhof, es roch, wie es nur hier im Hinterhof riechen konnte, nach verdorbenem Leben in der Ödnis; das Fünf-Parteien-Mietshaus tat sich vor meinem Auge auf und ich schaltete Tom Waits wieder ab, denn ich wusste ja, dass mich etwas Schönes erwarten könnte. Und tatsächlich.
    Ich hörte Kai schon wieder Klavier spielen. Kai war mein Nachbar, ein ziemlich guter Musiker, und er hatte dieses Pianoteil, auf dem er formschöne Melodien zelebrierte; der Typ ging nicht arbeiten, aus seiner Wohnung roch es nach Ungewaschenheit und billigen Zigaretten, und wenn ich Kai mal ab und zu im Flur traf, weil er sich aus den Briefkästen, die sich im untersten Hausflur aufhielten, seine Post holen wollte, dann bestätigte sich dieser Eindruck auch optisch. Kai trug meist nicht mehr als eine Unterhose und ein ausgeleiertes Shirt, seine Haare waren ziemlich verfilzt und er roch manchmal nach Verweigerung von Waschgelegenheiten. Aber er war immer mit einer Freundlichkeit ausgestattet, die so frei von Herzen in die Welt schallerte, dass die Betrachtung seiner Ungepflegtheit in den Hintergrund geriet. Kai trug immer Dreitagebärte, manchmal auch Dreiwochenbärte und sehr häufig rot geäderte Augen. Eigentlich lief immer Musik bei ihm, manchmal von Tonträgern, aber meistens war sein Klavier die Quelle des Schönklangs. Und was ich von ihm an musikalischen Ergüssen durch die dünne Wand, die unsere Wohnungen trennte, hörte, fand ich phänomenal. Sehr oft spielte er einfach stundenlang irgendwelche Melodien; wie oft war ich schon bei seinem Spiel eingeschlafen, nicht weil es mich langweilte, sondern

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