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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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eine Bahn steigen, nach Leipzig fahren und da ein ähnliches Leben wie hier beginnen, nur mit noch mehr Kunst und wahrscheinlich noch mehr Frauen. Ich gönnte ihm seinen Aufstieg. Das Fundament unserer Freundschaft war aus der Toleranz für alle Taten und Untaten des jeweils anderen gegossen. Ich dankte Kai noch vor dem Schlafengehen durch die Tür für seine Stille, die den heutigen Abend trug wie ein Flussbett leichtes Laub. Mit diesem Strom zu schwimmen hatte die Gewissheit irgendwo anzukommen, wo man gerne war. Es war wie das Laufen im Kreis, das man gerne tat, weil an dem Punkt, wo sich der Kreis schloss, eine Besonderheit auf einen wartete und so das ganze restliche im Kreis laufen einen Sinn ergab, weil man sich auf diesen Punkt freute.
    Das Gefühl von Sicherheit und Trost, das ein Mensch imstande ist zu geben, das gab Kai mir, die korrekte Dosis Gefühl. Eine Gefühlsdosis, die in ihrer Abgestimmtheit schon fast angsterregend ausgeklügelt war. Die Wechselwirkung aus Sprechen und Schweigen und der Empfindung, dass Schweigen tatsächlich das schönere Sprechen war.
    Und Kai schwieg in meinen Kreislauf. Es fühlte sich in dieser Nacht an wie Blutaustausch. Das alte verbrauchte Blut in den Eimer der Widerlichkeit und sauerstoffangereichertes in den bettelnden, schwachen Kreislauf. Direkt ins Herz. Intrakardial. You made my day, my dear ...
    ***
    Und da standen wir am Friedhof am Ende eines Lebens. Der Tag hatte die Ausstrahlung eines verwackelten Schwarz-Weiß-Films, und das war auch gut so, fühlte sich richtig an. Die Zeremonie hatte begonnen und leiser Wind wehte über den Gräbern. Die unberührt davon stehenden Steine adressierten eine Endgültigkeit in ihr Umland, derer man sich schwer entziehen konnte. Ich las Namen von Leuten, deren Schicksale ich nicht kannte, denn ich war hier wegen des Schicksals meiner Mutter. Als wir langsam zum Grab gingen, bemerkte ich zum ersten Mal diese Taubheit im Kopf. Diese keine konkreten Gedanken zulassende mentale Zurückhaltung, die aber keineswegs eine aktive Handlung war, sondern einfach nur ein Grundgefühl, das ich mit mir herumtrug. Es war nicht einmal eine schwere Last, jetzt hier zu sein, die Pflicht zu haben, der Beerdigung meiner Mutter beizuwohnen. Es wirkte wie eine Selbstverständlichkeit, wie Atmen oder Sein.
    Wer hier vermerkt war, war nicht mehr, konnte nicht mehr mit in dieser alles verheißenden Lebendigkeit. Wundersamerweise war das vorherrschende Gefühl keine platt walzende Traurigkeit, sondern eher eine dumpfe Taubheit, die Taubheit eines leergeweinten Kindes.
    Am Grab meiner Mutter verweilend, in die Tiefe der Erinnerung starrend, das war in etwa so, als ob man eine Dokusoap im Fernsehen guckte, in der meinetwegen ein Krebskind starb, zu dem erst einmal eine halbe Stunde Fremdsympathie aufgebaut wurde, bevor es dann doch unter immenser Qual und Anteilnahme dem Leben entrissen wurde. Das Leiden ist zwar groß, befindet sich aber irgendwie hinter einer Wand, durch die man erst mal nicht durch kann, und dann lässt man die Wand da, und so pervers es klingt, man kann es fast genießen, weil es einem ein Gefühl macht, selbst gar nicht so tief dabei zu sein. Da war nun wirklich eine Wand zwischen mir und meiner Mutter, die aus Leben und Nicht-Leben bestand und wir beide standen auf verschiedenen Seiten.
    Der Schmerz des Ablebens meiner Mutter, der war zwar vorhanden, doch die Melancholie konnte man sogar irgendwie gutfinden, weil man sich erstens lange auf diesen Tag hatte vorbereiten können und zweitens selbst vom Leid anderer profitieren konnte. Dass Menschen um mich herum weinten, das konnte mich nicht zerstören, konnte nicht an meinen Kern, mein Innerstes vordringen, aber ich war als Sohn einer Toten in einer Position, dass ich mir das ganze Schauspiel angucken konnte, ohne vollkommen die Fassung zu verlieren. Das klang bei akuter Bewusstmachung, als sei ich ein Stein, ein Eisblock, ein Sack Zement, aber ich hatte unter der Oberfläche ein wild rotierendes Gefühlsleben. Und kalt ist nicht gleich leblos, ihr Trauerprofis. Vielleicht ist es ja diese Geisteshaltung, die ich gerade in mir führe, die mich zu einem unkaputtbaren Menschen machen wird. Fühlen und schweigen. Mein Gesicht schwieg, ich blickte zu Boden, wie die meisten.
    Caro und mein Vater standen neben mir. Es waren einige Leute gekommen, die wir zur Beerdigung eingeladen hatten. Verwandte, Bekannte, ehemalige Nachbarn, sogar Frau Overberg war da und noch einige andere Leute, die ich

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