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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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aus St. Anna kannte. Ein in überwiegend schwarz gewandetes Trauervölkchen war angereist, meiner Mutter eine sogenannte letzte Ehre zu erweisen. Ich glaube, dass meiner Mutter das nicht angenehm war, all dieser Trubel, der hier um ihrer Leiche willen veranstaltet wurde. Sie war schon zu Lebzeiten eher ein um Unauffälligkeit bemühtes Eichhörnchen denn ein angriffslustiger ausgehungerter Tiger gewesen. Besuch hatte sie immer in Stress versetzt, weil die Fassade des gut laufenden Haushalts stets aufrecht erhalten werden sollte. Dafür, dass ihr Besuch eine gute Zeit im Haus meiner Eltern hatte, gab sie sich teilweise selbst auf. Sie war die Frau, die von unten kam, die schwer beladen aus Kellern aufstieg, mit Nahrungs- und Genussmitteln schwerstens beladen, von denen sie selbst erst etwas anrühren würde, wenn jeder Gast versorgt war. Ihr Ego wurde von ihr stets in eine Warteposition gestellt, und ich glaube, da stand es bis zu ihrem Ableben. Das kleine Ego meiner Mutter wartet wohl heute noch in einem einsamen Bushaltestellenhäuschen in einem verlassenen Landstrich, durch den seit Jahren wohl kein Bus mehr gefahren war. Und nun lag sie hier ...
    Ich hatte sie vor zwei Tagen noch einmal gesehen, als sie in der Kapelle von St. Anna aufgebahrt wurde. Ihr Körper lag tiefenentspannt im Holzsarg, die Augen geschlossen, als schliefe sie. Es gab Leute, die ihr ein schönes Kleid angezogen und sie sogar geschminkt hatten, jedoch war ihr Ausdruck ein völlig fremder. Die tote Mutter, die da in einer Holzschale lag, die kleinen Hände gefaltet, das war nicht die Frau, zu der ich einst mütterliche Gefühle gehabt hatte, es war nicht die, von der ich mich in meiner Jugend abspalten musste, um im voranschreitenden Alter wieder zu ihr zu finden. Nein, das war eine Ausstellungspuppe der Sorte: Wie man aus einem verlebten Ding eine schöne Leiche macht. Sie sah gut aus, aber meine Mutter hat nie so ausgesehen. Das letzte Lebendfoto, das ich von meiner Mutter in mir gespeichert hatte, glich eher einem überfahrenen Tier am sommerlichen Straßenrand, vollbesetzt mit dicken schwarzen Fliegen oder einer vergessenen, ungegessenen Mahlzeit, die man nach seinem dreiwöchigen Thailandaufenthalt auf seinem Küchentisch wiederfindet und die einem anklagend entgegenstinkt. Jetzt war sie aber das Produkt von Leuten, die uns Trauergästen diese Blicke auf den wahren Tod vorenthalten wollten. Das Gebrochensein eines toten Körpers war einfach nichts für Lebende; es schwächte jeden von uns, sich die Leiche von irgendwem anzusehen, und Schwäche ist nicht gut in einer Zeit, in der man ständig krisengebeutelt umherirrt, die Wahrheit im Sucher. So wurden also Designerleichen in formschönen Holzkisten präsentiert, alles abseits vom Leben, abseits von Gefühlen.
    Das war eigentlich ein schöner Gedanke, dass die Person, die da geschminkt und in ein edles hellbraunes Kleid gehüllt war, gar nicht meine Mutter, sondern eine fremde Person war; so konnte ich mich immer noch der Vorstellung hingeben, meine Mutter sei irgendwie entkommen, dem Tod von der Schüppe gesprungen. Zwar gab es den vorhandenen Körper als Hinterlassenschaft, aber wie beweist man den Tod einer Persönlichkeit? Wir beerdigten demnach eine Fremde, aber das sagte ich niemandem. Mich interessierte nicht, wer es war, mich interessierte lediglich, dass es meine Mutter nicht war. Das puppenartige Geschöpf, das dort lag, sah aus wie jemand, der gleich zum kultivierten Tanztee aufzubrechen gedachte, ein in Schale geworfenes Menschentier, zeitlos dumm wie die Mona Lisa, von der man ja auch nur ein Standbild kannte.
    Die Zeremonie nahm ihren Lauf, die meisten Blicke waren auf den Boden gesenkt, so auch meiner. Es gab mir Sicherheit, den Boden anzugucken. Der Boden unter mir guckte zurück und sagte nichts, aber es tat gut, einfach nur dazustehen und von irgendetwas getragen zu werden. Immer noch hatte ich diese Taubheit in Kopf und Körper, die Distanz schaffte zwischen mir und der Außenwelt. Ein Geistlicher, den ich nicht kannte, sprach einige Worte vom Verlust, vom Gehenlassen und vom Irgendwoankommen, wo Gott auf einen warten würde, und ich suchte Würde, Wahrheit und Akzeptanz in diesen Worten und fand nur Unberechenbarkeit, Dummheit und Oberflächlichkeit. Aber er redete weiter, so wie jemand redet, der eine Gebrauchsanweisung für einen Radiowecker vorliest.
    Es hibbelte sich was in mein Blickfeld, als ich so auf den Boden starrte und hoffte, dass dieser Boden mich noch lange

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