Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen
herumschleppt. Ich nickte langsam und sah ihr dabei in die Augen. Es war völlig in Ordnung, dass sie da war, dass sie bei meinem Vater war, ihn unterstützte. Die Ehe meiner Eltern hatte ich immer als sehr zerbrechlichen Gegenstand empfunden, einer kleinen, zarten Porzellanvase gleich, die irgendwie immer nur geschützt vor jeder Öffentlichkeit im Schrank stand. Aber irgendwie deswegen immer ohne Inhalt war. Deswegen passte die Sache mit Erika, da war keine Vase, mein Vater und Erika waren eher eine Statue, die krumm, unfotogen, aber Stabilität ausstrahlend im Raum herumstand. Und man wusste, dass da so was wie Liebe drinsteckte. Ich sah Erika lächelnd an und sagte, dass alles passe und ich froh sei, dass sie hier war, und sie schenkte auch mir ein Lächeln, ein ungewöhnlicher Ausdruck für ihre herbe, hausfrauliche Art, aber ich bemerkte, dass Güte darin schwamm.
Mein Vater kam zurück aus dem Nebenraum und hatte ein altes Buch in der Hand. Er reichte es mir. Es war total zugestaubt, und als ich den Titel las, schossen Tränen in meine Augen, einfach so. Das Buch hieß: «Die Stimmen der Vögel im deutschen Wald», und ich sah mich, wie ich auf dem Schoß meiner Mutter saß und sie liebevoll in mein Ohr pfiff. Das Buch war ziemlich abgegriffen, die Pappe war auf dem Cover gerissen, auf dem irgendein Vogel unbekannter Herkunft und unbekannter Art stolz auf einem Ast saß und seinen Schnabel aufriss. Diese Vögel waren mir scheißegal, das Buch allerdings versetzte mich in einen taumeligen Erregungszustand und meine Hände zitterten, als ich die erste Seite aufschlug. Caro bemerkte die in mich kommende Melancholie und ihr Streicheln wurde fester, und auch das tat gut, denn sie spürte, dass der Moment ein großer und guter war, und sie war hier, um den mit mir, meinem Vater und Erika zu teilen.
Nachtigall, Blaukehlchen, Amsel, Abbildungen, Beschreibungen und zu jedem Flugtier der Versuch, das Geräusch, dass er machte, in Worte zu fassen. «Tschilp, tschilp, schlil lip» stand neben einem kleinen Vogel, und der guckte ebenfalls so, als ob das Leben eine einzige emotionale Abfahrt wäre. Ist es aber nicht, lieber, kleiner Vogel, ist es nicht. Momente, wie dieser hier, bestätigten das. Es war zwar in allen und allem eine Traurigkeit zu Hause, aber wir hatten noch nicht unsere Sinnlichkeit füreinander eingebüßt. «Nimm das Teil mit», sagte mein Vater, «hier liegt das nur rum.» Seine Worte wirkten gebrochen, wie auf der Grenze zum Weinen, aber diese Blöße gab sich mein Vater nicht. Das Buch glitt durch meine Hände und fühlte sich komplett richtig dort an. Das Einzige, was ich hervorbringen konnte, war ein staubtrockenes, in mich gesprochenes, zerbrechlich flatterndes Danke. Ich war so fragil wie die dünnwandigen Kaffeetassen, in denen wir uns anschließend wieder rührend betätigten.
Die Dinge waren geklärt und die Liebe nicht abhandengekommen. In dieser Erkenntnis hielt sich ein Gefühl auf, das trotz des Abhandengekommenseins der Körperlichkeit meiner Mutter einen gewissen hoffnungsvollen Frohsinn ausstrahlte. Und der schien mir nicht mal unpassend, sondern er war wie eine Entwicklung. Ich hatte nun endgültig das Gefühl zu meinem Vater nach all den Irrungen und Wirrungen unserer Beziehung.
Beim Abschied hielt ich Erikas Hand lange fest, drückte den warmen Fleischklumpen, der sich wie eine kalte Frikadelle anfühlte. Erika lächelte ihr Anerkanntsein in meine Richtung. Es war kein mütterliches Lächeln, eher ein zurückhaltend freundschaftliches Angebot, das sie mir mit ihrem Gesicht unterbreitete. Anschließend umarmte ich meinen Vater und spürte sogar, dass er es mochte. Auch er presste mich förmlich an sich, seine Restliebe aussendend. Ich wollte das hier als Standbild in meinem Kopf, als gute Erinnerung wollte ich eine Sicherungskopie dieses Moments. Caro nahm meine Hand und alles war einen kleinen Augenblick lang gut. In der Hand, an der Caro nicht dran war, hatte ich das Vogelstimmenbuch fest im Griff.
***
Manchmal ist Schweigen das schönere Reden, das war eine mir bereits bekannte Tatsache, die ich mit Caro, aber auch mit Kai immer wieder teilen konnte. Es gab ja Menschen, die Schweigen für ein fremdartiges, Angst machendes Gebilde hielten, aber ich empfand das Schweigen in guter Gesellschaft sehr häufig als erstrebenswerteste Kommunikationsart.
Kai sah mich lange an; ich glaube, wir schwiegen schon seit über sieben Minuten, aber es war kein Schweigen, das Bedrohlichkeit
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