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Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen

Titel: Vogelstimmen - Bernemann, D: Vogelstimmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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auf sich halten möge. Ein Kind huschte vorbei und machte verhaltensauffällige Kinderbewegungen. Drehte sich, stolperte, richtete sich auf und wirkte dabei wie zufällige Genetik ohne konkrete Zieldefinition. Ich sah zwei kleine Füße in schmutzigen Schuhen, als ich auf den Boden starrte, die gehörten dem vielleicht siebenjährigen Sohn meines Cousins Frank, eben jener Frank, der damals mit mir zusammen dem Sterben meines Opas beigewohnt hatte. Sein Sohn hatte etwas leicht Behindertes an sich, sein Blick war irgendwie weltfremd und seine Art zu gehen unbeholfen und sprunghaft. Man sah ihm an, wie er der Bewegung bedurfte, wie es ihm Probleme bereitete, diesen andächtigen Stillstand durchzuhalten, und dazu die Stille, eine Stille, die so laut über jedem von uns hing, dass sie für ihn etwas Bedrohliches darzustellen schien. Aber, und das war das Schöne daran, dieser Junge, der zwischen den ganzen in Bedächtigkeit und Stille gefangen Trauergästen umherstolperte, der führte so viel Leben in sich, Unmengen von lebendigem Bewegungsdrang, dass mir das Herz aufging. Da sah ich diesen kleinen Jungen, so viel friedhofsuntpyisches Leben ausstrahlen, ohne einen Gedanken an irgendeine Vergänglichkeit verschwenden, so unbeholfen tanzen zwischen all den Trauergästen.
    Mein Cousin und seine Frau versuchten zwar, ihn zurückzuhalten, aber sie hatten ihre Mühe damit. Dem Jungen waren das Gezische seiner Mutter und die pädagogischen Blicke seines Vaters egal. Ich sah den beiden an, dass es ihnen unangenehm war, ein lebendiges, unangepasstes Kind zu besitzen, das auf dem Friedhof während einer Trauerfeier umhersprang, um so auf seine Kindlichkeit aufmerksam zu machen. Die drei standen links von mir, vielleicht zwei Meter entfernt und ich sah, wie Franks Frau den Kleinen schließlich umfasste und wie dieser versuchte, sich aus der Zwangsumarmung seiner Mutter zu befreien. Der Junge sah aus wie unterdrücktes Leben, wie niedergeprügelte Energie, die von einer stärkeren Macht gezwungen wird, sich dieser zu unterwerfen. Eigentlich ein tragisches Spektakel, und das einzig lebendige Geschöpf auf diesem Friedhof war tatsächlich dieser Junge, dem man die Freiheit verwehrte, seinem kindlichen Spieltrieb gerecht zu werden. Irgendwann aber fügte er sich, seine Mutter gab ihn in die Arme meines Cousins, wo er sich mit dessen Fingern beschäftigte. Wahrscheinlich wusste der Junge nichts von der Endgültigkeit des Sterbens mit den althergebrachten spirituellen Fragen, die dadurch aufgeworfen wurden, das überstieg anscheinend sein Vorstellungsvermögen, und ich wollte ein wenig denken wie er, frei und ungezwungen dem Tod begegnen.
    Das Leben ist ein Rucksack voller alter Fotos, aber auch mit den ungefähren Landkarten noch nicht erschlossener Gebiete darin. Gewicht hat es immer, dieses Leben, und man kann das Gewicht stets reduzieren, indem man Fotos oder eben Pläne rauswirft, aber jetzt gerade, wo ich hier in meiner dumpfen Taubheit am Grab meiner Mutter stehe, da bemerke ich, dass mich dieses Zuviel an Vergangenheitsballast daran hindert, wie eine bekloppt gewordene Schwalbe endlich endlos aufwärts zu steigen, um mein Sichtfeld zu erweitern und mich den wilden Winden des Lebens, die oberhalb einer bestimmten Empfindlichkeit zugange sind, endlich hinzugeben.
    Der Geistliche betete irgendwas, was keinen zu interessieren schien, nicht mal ihn selbst, denn die Worte verließen so unbetont sein Gesicht, so gefühllos sachlich sprach er von der Möglichkeit einer Auferstehung und von Gottes Willen, und mein Blick verließ den Boden. Ich sah in das gleichgültige Gesicht meines Vaters, der einfach starr geradeaus guckte. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, bewegungslos starrte es geradeaus, jede Nachvollziehbarkeit seiner Gedanken unmöglich machend. Auf der anderen Seite schaute Caro auf den Boden der Tatsachen, auf dem wir uns aufhielten. Sie stand da einfach, wie ein kleines Monument, gezimmert aus Treue und Pflichtbewusstsein, und obwohl ich mich in dieser Taubheit aufhielt, dieser Taubheit, die nichts, was mich umgab, wirklich fühlbar machte, wusste ich, dass es gut war, sie hier zu haben.
    Das Erdloch, in das man den zu beerdigenden Körper gelegt hatte, war dabei, sich zu schließen, zuvor hatten alle anwesenden Trauernden noch eine Schüppe Erde auf den Sarg meiner Mutter geworfen oder aber eine Blume. Ich fühlte mich seltsam leer, irgendwie angefüllt mit nichts als Luft, als ich, Caro an der Hand und in den Rücken

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