Vogelweide: Roman (German Edition)
messingfarben leuchtenden Haare trug sie aufgesteckt. Ein schwarzes, eng geschnittenes Kleid mit einem weißen Kragen. Sie stand mit dem Mann, der sie ihm am Vortragsabend entführt hatte, und anderen Besuchern im Gespräch. Es war ihr Blick, überrascht, in dem er sich wiederfand. Und so grüßten sie einander. Dieses Bild war aufgehoben, noch jetzt, hier, in der Hütte, in verstörender Genauigkeit und räumlicher Tiefe.
Selma stieß ihn an, ja rüttelte ihn, he, was ist los?
Als sich die Stehenden verteilten und an der langen Tafel, an der es keine Sitzordnung gab, Platz nahmen, um die nach einem nordkoreanischen Rezept gekochte Linsensuppe zu essen, hatte Selma dorthin gezeigt, wo die Angestarrte saß und neben ihr der Mann, der, wie sich später erweisen sollte, ihr Ehemann war. So saßen sie zu viert zusammen. Eschenbach sagte beiläufig, dass sie einander schon einmal begegnet seien, und die Frau sagte zu ihrem Mann, dass auch er dabei gewesen sei. Der schüttelte den Kopf, konnte sich nicht erinnern. Sie nannten ihre Namen und redeten von ihren Berufen, Anna die Lehrerin, Kunstlehrerin, ihr Mann Ewald, Architekt, Selma, Silberschmiedin, und Eschenbach erwähnte wieder seine Firma und musste abermals erklären, was bei den anderen Berufen sogleich einsichtig und ohne lange Erklärung verständlich war. Also eine Firma für Software.
Für was?
Alle möglichen Abläufe berechnen, vereinfachen und optimieren. Kurz, Ordnung ins Chaos bringen. Oder das jedenfalls versuchen, verbesserte er sich.
Ewald, der Architekt, wollte darauf anstoßen und meinte, genau das könne er gerade gebrauchen. Sein Architekturbüro baue demnächst in China eine Wohnsiedlung, was heißt Siedlung, eine Stadt. Der Bau zu Babel schon in der Planung. Ob seine Arbeit auch auf Bauvorhaben zu übertragen sei?
Im Prinzip schon, sagte Eschenbach, der keine Lust hatte, hier einen Kunden zu werben, sondern sich darauf konzentrieren musste, sie, Anna, nicht immer wieder anzustarren, dabei von Algorithmen und der Methode des Heurismus sprach, Worte, deren Sinn sich ihm beim Reden entzog, weil seine Blicke ihm ganz einfache Worte nahelegten: Lippen, Augen, Augenlider, Kinn, Wangenknochen, Haar, dieses Haar, das berührt werden wollte.
Selma, die wunderbare Selma, sagte schließlich, du redest so, als käme die Unordnung über uns. Mir wäre das System schon zu Hause ein Gewinn. Obwohl sie den Ordnungsanalysen so nahe sei, gehe bei ihr alles drunter und drüber.
Ewald sagte, das Projekt sei einfach eine Nummer zu groß.
Anna versuchte ihn zu unterbrechen, bitte nicht wieder der China-Bau.
Sein Büro, fuhr er fort, vor allem er sei mit dem Bau überfordert. In seinem Büro seien zwanzig Architekten damit beschäftigt. Und dann die Chinesen. Die Bürokratie. Unglaublich.
Selma nahm das als Stichwort und berichtete von ihrer Chinareise, die sie vor Jahren gemacht hatte, von Hongkong und Macao.
Geschäftlich?, fragte Ewald.
Nein, sagte sie, privat.
Eschenbach wusste, dass es eine Reise mit einem Freund gewesen war, eine Reise, die ein dramatisches Ende gefunden hatte. Ihr Freund war in China verhaftet worden. Er war, wie sich später herausstellen sollte, Waffenhändler, hatte Selma aber gesagt, er sei Antiquitätenhändler. Was nicht gelogen war, denn es waren gebrauchte Waffen, mit denen er handelte. Sie, die mit ihm in der ersten Klasse hingeflogen war, musste in der Billigklasse zurückfliegen, auf dem Schoß eine kleine, wunderbare Ming-Vase, die sie als Mitbringsel durch den Zoll schleusen konnte. Später hatte sie die Vase Eschenbach geschenkt, einfach so, zum Geburtstag. Das wertvollste Geburtstagsgeschenk, das er je bekommen hatte.
Anna, sagte er, sei ein so klangvoller wie linguistisch interessanter Name, da er sich bekanntlich von vorn wie rückwärts lesen lässt, und er dürfe ihr, der Lateinlehrerin, verraten, dass es in der Informatik auch Palindrome gebe, allerdings müssten die keinen Sinn ergeben, sondern nur symmetrisch um eine Mitte gebaut sein. Sie wollte wissen, ob er Mathematik studiert habe. Nein, Theologie, dann etwas Soziologie, erst später habe er sich in die Informatik eingearbeitet. Mal dies, mal das, damals noch ungewöhnlich und heute ganz normal.
Das Gespräch hatte sich dann chinesischen Lokalen in Berlin zugewandt.
Selma und Ewald, beide Kenner der chinesischen Küche, verglichen die Qualität einzelner Restaurants. Ewald erwähnte ein Lokal, das mit Devotionalien aus der Kulturrevolution vollgestopft
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