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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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sehr genau, was sie will, und in ihrem Willen ist sie sehr bestimmend. Plötzliche Wutausbrüche, weil er keine Zeit oder Lust hatte, ins Kino zu gehen. Du müsstest mit ihr einmal über Politik diskutieren. Ein flammender Nationalismus, was Polen angeht. Ein feines Empfinden für die Ehre. Geradezu aristokratisch, obwohl der Vater Arbeiter ist. Der Wille, unabhängig zu sein, nicht zu Dank verpflichtet. Geschenke werden sogleich mit Gegengeschenken beantwortet. Wobei sie sorgsam darauf achtet, dass ihr größtes Geschenk – ihre wunderbare Hingabe – keine Gegengabe fordert. Sie nimmt keine Einladung an. Besteht darauf, selbst zu zahlen, also nicht die kleinste Bestechung. Darum gehen wir in die billigen Restaurants. Sie hat auch dafür eine Erklärung, die einfache Küche sei, wird sie denn gut zubereitet, die gesündeste. Und sie macht fabelhafte Resteessen. Heute gibt es Schurrmurr. Solche ungebräuchlichen Worte kommen aus ihrem Mund. Ich wäre, sagte er zu seinem Freund, gern mal mit ihr an einem Wochenende nach Paris oder Rom oder London geflogen. Geld war genug da, lag auf dem Tagesgeldkonto herum. Konnte es, weil ich keine Zeit hatte, nicht mal ausgeben. Nein. Sie hämmert an ihrem Schmuck. Übrigens sehr schöne Sachen. Hopi–Schmuck, den sie als echt und alt verkauft.
    Eine kleine, von ihm bewunderte kriminelle Energie steckte in ihr.
    Einmal hatte sie fünf Armreifen an einen Galeristen verkaufen können, an eben jenen, für dessen Frau sie einen Armreif geschmiedet hatte, worauf diese Galeristenfrau überall gefragt worden war, woher sie dieses so staunenswerte Stück bekommen habe. Antik? Selbstverständlich. Also hatte sie noch fünf weitere echte alte Armreifen angefertigt. Das Honorar war hoch. Selma hatte nun genug Geld, um den Flug und das Hotel selbst zu zahlen.
    Die Hochhäuser am Potsdamer Platz waren im tief hängenden Novembergrau verschwunden, da hatte sie gesagt: Los, wir fliegen, irgendwohin, wo es warm ist, wo wir baden können. Sie hatte im Internet gesucht und ein kleines Hotel in der Türkei gefunden, weit abgelegen von den Betonburgen Antalyas. Sie hatte die Flüge gebucht. In drei Tagen geht es los. Das Spontane ist doch das Schönste.
    Allerdings hatte er, um die anstehenden Entscheidungen in der Firma vorzubereiten, die beiden Nächte vor dem Abflug durcharbeiten müssen.
    Sie hatte ein Holzhaus gemietet, von dem sie behauptete, es sehe aus wie die Häuser auf Martha’s Vineyard. Woher sie das wusste, sagte sie nicht. Ein helles gelbrötliches Holz, das Holz der Pinien, die mit mächtigen Stämmen und Kronen an der lang gezogenen Bucht wuchsen, die, weil dort die Schildkröten ihre Eier am Strand ablegten, unter Naturschutz stand.
    Eine Woche des Nichtstuns, sagte er, sei es gewesen. Er hatte sich die Odyssee , in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß, mitgenommen und dazu eine griechische Ausgabe, um vergleichen zu können. Etwas mühsam, denn er hatte das Graecum in nur einem Jahr für sein Theologiestudium nachholen müssen. Beim Lesen musste er zunächst immer wieder nachschlagen. Aber am Ende der Woche las er schon recht zügig, deklamierte laut in den Wellen.
    Was redest du da immer, wollte Selma wissen.
    Nur so, brummelte er, peinlich ertappt, und schwamm fortan still und mit Blick auf diese Bucht, lang gezogen, zu beiden Seiten von zerklüfteten steilen Felsen abgeschlossen, ein heller Streifen der Kieselsteine, rund und flachpoliert, dahinter das gebauschte, vielschattige Grün der Pinien, und im Hintergrund erhob sich das Gebirge mit einem weiß leuchtenden, spitz zulaufenden Gipfel, dem Matterhorn ähnlich. Davor Hügel, kiefernbestanden, zerklüftet, dort lag der ewig brennende Berg mit dem Heiligtum des Hephaistos. Dem Einzigen unter den griechischen Göttern, der sich die Finger schmutzig gemacht hat. Der Prolet.
    Sie waren bei Einbruch der Dunkelheit durch einen Pinienwald den steinigen Pfad hinaufgestiegen, der sich jäh zu einem baumlosen Hang öffnete. Aus dem felsigen Erdreich kamen zahlreiche kleine bläuliche Flammen. Wie nahe und einsichtig es war, dass hier dieser Gott wirkte.
    Hier ist mein Ort, sagte Selma, und das ist mein Geschenk. Sie riss eine Seite aus ihrem Impfpass und zündete damit eine neue, aus dem Boden kommende kleine Flamme an.
    Das ist mein Ort, wiederholte Selma.
    Sie standen in einem wundersamen Staunen.

    Frühmorgens, noch vor Sonnenaufgang, ging er hinunter zum Strand und blickte diesem ersten grauen, dann sich ins Orange

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