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Vogelwild

Vogelwild

Titel: Vogelwild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Auer
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grünen Mantel und mit weißen Handschuhen bot er in
der Tat einen bemerkenswerten Anblick. Dazu trug er schwarze Schnürschuhe,
denen man hoffentlich nicht anmerken würde, dass sie knöchelhoch und mit
Schaffell gefüttert waren: Es waren seine uralten Winterstiefel, die er am
Vorabend aus den Tiefen eines bis dahin noch ungeöffneten Umzugskartons
hervorgezogen und nach kurzem Zögern als Huber-kompatibel bewertet hatte. Die
Westernboots hatte der Inspektionsleiter ja ausdrücklich auf den
Prozessionsindex gesetzt. Messerscharf hatte Morgenstern daraufhin gefolgert,
dass dann wohl auch seine geliebten Turnschuhe unerwünscht sein würden, selbst
wenn es sich dabei um edle Markenprodukte handelte. Gegen zehn Uhr abends hatte
er mürrisch die Schaffellstiefel mit schwarzer Schuhcreme auf Hochglanz
gewienert.
    Als er sich nun am Morgen in die Schuhe zwängte,
reflektierte er die Situation grimmig: In Deutschland konnte vielleicht ein
Minister in Turnschuhen vereidigt werden, aber hier in Eichstätt galten am
Fronleichnamstag noch immer die Regeln aus vergangenen Jahrzehnten. Da würde er
sich erst noch akklimatisieren müssen, dachte der Ermittler, während er die
Schuhe schnürte und seine Hände in die weißen Fingerlinge zwängte.
    »Herzlich willkommen in den guten alten fünfziger
Jahren, Mike!«, begrüßte er sein Spiegelbild. Fiona und seine beiden Söhne, der
siebenjährige Bastian und der neunjährige Marius, lagen noch in den Federn,
schließlich war es noch nicht einmal sieben Uhr – und das an einem Feiertag.
Für so viele Menschen begann heute der Tag mit Ausschlafen, nur nicht für ihn,
den Ehrengardisten des Altarsakraments, der angesichts seiner bevorstehenden
Aufgabe die halbe Nacht wach gelegen hatte. Dann gab sich Morgenstern seufzend
einen Ruck, öffnete die Tür seiner Mietwohnung und trabte so energiegeladen wie
nur möglich die Treppe hinunter. Als er zum altehrwürdigen Dom lief, atmete er
die kühle Morgenluft tief ein und hörte die ersten vereinzelten Autos über das
Kopfsteinpflaster rollen.
    War
das noch eine kirchliche Prozession? Morgenstern fühlte sich wie bei einer
Demonstration. Einer Großdemo mit weit über tausend Teilnehmern, durch und
durch genehmigt.
    »Wir sind quasi der Personenschutz für den lieben
Gott«, flüsterte Huber Morgenstern zu, als sie nach dem Auftakt der
Fronleichnamsprozession im überfüllten Dom endlich würdevoll durch die Stadt
marschierten. Die Straßen waren mit Birkenbäumchen geschmückt, und in den
Farben des Vatikans wehten weiß-gelbe Fahnen an den Häusern, die sich oft mit
den weiß-blauen des Freistaats Bayern abwechselten. Wie schon von Huber
angekündigt, war die Wegstrecke mörderisch. Die Prozession zog über drei
Stunden lang durch die Stadt und machte ein ums andere Mal an
blumengeschmückten Plätzen zur besinnlichen Andacht halt. Aus den
Lautsprechern, die am Weg entlang aufgehängt worden waren, wurde die gesamte
Eichstätter Altstadt mit Gebeten und Liedern beschallt.
    Morgenstern hatte mit verbissener Entschlossenheit und
unbewegtem Gesichtsausdruck mitgemacht, er hatte sein Bestes gegeben und sich
nicht unterkriegen lassen. Doch nun, am späten Vormittag, konnte er nicht mehr
ignorieren, dass ihm die sommerliche Hitze mehr und mehr zu schaffen machte.
Die schweißnassen Hände juckten unter den Stoffhandschuhen, an seine Füße wagte
er gar nicht erst zu denken.
    Wie konnte ich bloß so blöd sein und freiwillig die
gefütterten Schuhe anziehen?, haderte er mit sich und seinen kuscheligen
Winterstiefeln. Außerdem kam ihm der spinatgrüne Parademantel so vor, als söge
er die Sonnenhitze auf – wie ein Schamottstein im Kachelofen. Keine zehn Meter
vor den Polizisten schritten die Ministranten in ihren rot-weißen Gewändern:
Der Oberministrant schwenkte voller Hingabe sein Weihrauchfass hin und her,
sodass ihm dicke Rauchschwaden folgten, und alle paar Minuten streute ein anderer
Messdiener neue Weihrauchkörner auf die glühenden Kohlen. Morgenstern spürte,
wie ihm der Schweiß auf der Stirn perlte. Sein Mund war trocken, die Zunge
klebte am Gaumen. Als die Prozession auf dem großen Vorplatz des Klosters St.
Walburg zum dritten Mal eine Station einlegte, flüsterte er Huber verzweifelt
zu: »Wie lange geht das denn noch? Manfred, ich glaube, mir wird gleich
schlecht.«
    »Jetzt reiß dich halt zusammen«, zischte Huber zurück,
»wir haben’s ja bald. Vielleicht noch eine halbe Stunde.«
    Die Antwort löste bei Morgenstern ein

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