Vogelwild
wurde das zünftige Treiben von dem
Martinshorn eines Rettungswagens unterbrochen, der auf der nahen Bundesstraße
Richtung Weißenburg fuhr. Wenig später tönte ein zweites Tatütata von der B 13 herüber.
»Bei der Hitze kriegen anscheinend noch mehr Leute
einen Sonnenstich«, witzelte Morgenstern, der in Ermangelung von Ersatz immer
noch seine Schaffellschuhe trug, aber wenigstens seinen Mantel und die
Handschuhe abgelegt sowie das Hemd luftig geöffnet hatte.
»Wahrscheinlich hatte ein Rentner einen Herzinfarkt«,
tippte Manfred Huber. Doch keine fünf Minuten später waren zwei
Feuerwehrfahrzeuge mit ihren deutlich dunkleren Hörnern zu hören.
»Himmelherrgott, da ist irgendwo ein Unfall passiert; wahrscheinlich hat ein
Motorradfahrer die Serpentinen der Bundesstraße nicht richtig eingeschätzt«,
mutmaßte Huber erneut. »An Fronleichnam zieht’s die alle aus ihren Löchern.
Keiner hat Übung, aber alle rasen wie die Verrückten. Und wir müssen sie dann
wieder einsammeln.« Der Inspektionsleiter kramte sein Handy heraus und wählte
eine Nummer: »Huber hier, Kollegen, was ist denn los? Hier schallt es nur so
von Martinshörnern … Wie, in den Wintershofer Steinbrüchen? … Nur einer
alleine? … Nein, natürlich. Ich komme sofort.«
Gebannt wartete die Beamtenrunde auf Hubers Bericht,
und auch von den anderen Tischen beugten sich die Männer jetzt neugierig zu
ihnen herüber. Flüsternd erstattete Huber seinen Kollegen Meldung: »Wir haben
einen Toten oben in den Steinbrüchen. Er ist verschüttet worden.« Und zu
Morgenstern gewandt sagte er: »Mike, du kannst mich gleich begleiten. Die Kripo
brauchen wir bei einem solchen Unfall sowieso.«
***
Die Anspannung war greifbar, als die beiden
Beamten in Morgensterns betagtem rotem Landrover die gewundene Bergstraße
hinauf zur Hochfläche des Jura fuhren. Es war eine karge Gegend, der Gott kein
Wasser, dafür aber umso mehr Stein geschenkt hatte: Kalkstein, der in riesigen
Steinbrüchen aus dem Boden geholt wurde. Die dünnen Steinplatten wurden in Paletten
gestapelt und dann in die Schleiferei geschafft, wo sie zugeschnitten wurden.
Von dort traten sie als Fußboden-oder Wandbelag dann ihre Reise in die gesamte
Welt an.
Huber, der schon zwei Weißbier intus hatte (»eins für
den Durst und eins für die Gemütlichkeit«), erklärte Morgenstern vom
Beifahrersitz aus auf dem Weg zum Steinbruch kurz die Branche. »Wenn du neu
hier bist, kannst du das alles natürlich nicht wissen«, dozierte er, um
offensichtlich nicht schweigend und grübelnd zum Unglücksort fahren zu müssen.
Früher, so berichtete der Dienststellenleiter, hätten die Eichstätter Arbeiter
in den Steinbrüchen ihr Brot gefunden, doch heute überließen die Einheimischen
die schwere Handarbeit zum Großteil den türkischen Gastarbeitern. Nur noch
wenige Deutsche waren gewillt, sich die Schinderei anzutun. »Mit dem Stemmeisen
und mit Meißeln werden die dünnen Steinplatten Schicht für Schicht
herausgeholt«, erklärte Huber. »Das geht so tief, bis am Ende das Vorkommen
erschöpft ist. Aber du wirst es gleich mit eigenen Augen sehen. Das ist noch
immer reine Handarbeit.«
»Gibt es denn öfter Unfälle?«, erkundigte sich
Morgenstern.
»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Huber. »Der letzte
tödliche Arbeitsunfall liegt, glaube ich, schon Jahrzehnte zurück.« Er machte
eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: »Das liegt vielleicht auch daran, dass die
meisten Türken kein Bier trinken. Wo es keinen Alkohol gibt, sinkt naturgemäß
auch das Unfallrisiko.«
»Machen die Türken die Arbeit denn gerne?«, wollte
Morgenstern jetzt wissen.
»Ich denke schon. Weißt du, das sind zumeist einfache
Leute, die irgendwo aus Anatolien kommen. Hier in den Steinbrüchen sind sie
weitgehend unter sich. Ganze Großfamilien arbeiten da gemeinsam, Männer wie
Frauen, und teilweise helfen sogar die Kinder mit. Das ist natürlich illegal,
aber schwer zu kontrollieren.«
»Also haben die hier, mitten in Bayern, ein Stück
Anatolien gefunden«, fasste Morgenstern zusammen.
»Kann man so sagen. Aber du darfst dich davon nicht
täuschen lassen: Die nächste Generation sucht bereits nach besseren Jobs. Viele
Väter achten darauf, dass ihre Kinder eine ordentliche Ausbildung bekommen, gut
Deutsch sprechen und am besten später einen Job bei Audi in Ingolstadt
bekommen.«
Als sie das Steinbruchgebiet erreichten, präsentierten
sich die Brüche den Beamten als Labyrinth verschiedener tiefer Gruben,
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